Poetenpfade im Gebirge
Nein, es kann kein Zufall sein. Eine Almhütte, knorzig wie eine Arve, kuschelig wie eine Wohnzimmercouch und so versteckt wie die Stecknadel im Heuschober. Einbildung hin oder her, bei diesem Bild purzeln mir reihenweise Traumbilder und Emotionen voller Harmonie, Geborgenheit, Einfachheit durch den Kopf. Ob anno Ludwig Steub dieser Urtyp einer Almhütte auch schon dort stand....? Ein Trupp Rinder drückt sich an das verwitterte Holzgatter, ihre Körper und Euter schaukeln im Zeitlupentempo. Wiederholt muss ich mich zwicken. Wo bin ich? Aufstieg vom Hinteren Gießenbachtal – von Kiefersfelden geht es auf einer staubigen Forststraße tief hinein in das enger und enger werdende Tal bis zu einem Wanderparkplatz, erste Rast am Naturfreundehaus inclusive – ist wundervoll. Steil aber schattig. Wenn man nach 30 Minuten das Almengebiet erreicht, folgen weitere 30 Minuten mit zunehmend imposanter werdender Aussicht. Die Himmelmoosalm gehört zum schönsten Almengelände, das ich bis heute erwandert habe. Drüben wachsen die bizarren Konturen des Zahmen und Wilden Kaisergebirges in die Höhe. Ein Rindviech drapiert sich davor. „Was guckst Du?“, rufe ich euphorisiert. Schweigen. Hab`auch nichts anderes erwartet. Später gesellen sich Fernblicke auf die Zillertaler Alpenkette dazu. Poetenpfade im Gebirge, Ludwig Steubs Spuren, der literarische Entdecker Tirols und des Winkels hinterm Wendelstein und überm Inntal.
Auf der Alm
In der Mittagshitze haben sich bizarre Wolkentürme über dem Großen Traithen gebildet. Sein Haupt aus flachwüchsigen Latschen liegt im Schatten. Mein Weg auf die Oberaudorfer Almen wird zum Triumphmarsch. Wiesen voller Enziankelche. Tiefblau. Noch ganz geschlossen, wenn sie dem Wind ausgesetzt sind, weit geöffnet mit wunderbaren, trichterförmig geöffneten Blättern, wenn sie im Windschatten von der Sonne gewärmt werden. Alpenrosen beginnen zu blühen. Ich könnte tanzen und schreien vor Freude. Nun kann ich mir die Himmelmoosalm von gegenüber betrachten. Der Brünnstein darüber schaut aus wie ein Ameisenhaufen. Mit dem Fernglas sind die Gipfelstürmer zu beobachten. Klein wie Ameisen. Ein Flohzirkus. Ludwig Steub war auch Volkskundler. Bäuerliches Theaterspiel interessierte ihn. Von den Oberaudorfern weiß er zu berichten, dass sie um 1820 herum alle drei oder vier Wochen Stücke aufführten. Hochzeit auf der Alm, St. Georg und der Lindwurm, sogar Schillers Räuber und Shakespeares Hamlet gab man zum Besten. In Kiefersfelden wird die Tradition bäuerlichen Theaters fortgeführt. Seit 1618, die Ritterspiele gelten als ältestes Dorftheater Deutschlands, wird gespielt. Auf der Barockbühne von 1833 gibt es in diesem Sommer Ubald von Sternenburg, der Rächer am Totensarg, frei nach einer Vorlage des Tiroler Autors Josef Georg Schmalz. Auf der Audorfer Alm, genauer vor der Peterer Hütte, strecke ich die Füsse aus. Radi, Käsebrot und Radler. Wie schrieb Ludwig Steub doch „Die Almerinnen führen fast ein Leben wie die Elfen...“. Wenn auch die Hüttenwirtin nicht gerade elfische Züge demonstriert, die Audorfer Almen bleiben „das empfehlenswerteste Stück für das große Publicum, leicht zu begehen, dabei lieblich, großartig, mit weiten Fernsichten!“
Weitere Wanderherbst-Themen im Heft:
- Ruhpolding: wanderbar und wunderbar, mit Wandertipp „Über die Hörndl-Alm und die Röthelmoos-Almen
- Bad Zwesten: Mit „Zwesty“ on tour
- Uckermark: Moränenland
- Nümbrecht: die Naturarena Bergisches Land