von Redakteurin Marieke Wist 

„In einer Satiresendung habe ich gesehen, dass die Zugspitze ein zweites Gipfelkreuz bekommt, damit Menschen mit Sandalen dort auch Fotos machen können“, erzählt mir meine Mama lachend. „Das habe ich auch gelesen“, erwidere ich, „aber das ist keine Satire.“ Was zunächst wie ein Scherz klingt, ist tatsächlich Realität: Deutschlands höchster Berg erhält ein zweites Gipfelkreuz, damit Besucher:innen gefahrenlos Fotos machen können. 

Marieke Wist

Die knapp 3.000 m hohe Zugspitze ist mit ca. 600.000 Besucher:innen jährlich ein beliebtes Ziel. Diese Zahl ergibt sich auch durch die Bergbahn, die trotz stolzer 75 Euro für Berg- und Talfahrt gern genutzt wird. Auch ich kann mich der Faszination Zugspitze nicht entziehen und habe vor ein paar Jahren die rund 21 km lange Wanderung mit über 2.000 Höhenmetern durch das Reintal gemacht. Eine wunderschöne, aber auch kräftezehrende Wanderung, für die man auf jeden Fall Ausdauer und Bergerfahrung mitbringen sollte. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als meine beste Freundin und ich den letzten steilen Abschnitt überwunden hatten und auf einmal in einer völlig anderen Welt standen. Nämlich inmitten einer großen lauten Menschenmenge, zwischen top gestylter Besucher:innen, die ihre Bratwurst aßen und Fotos von sich machten. Top gestylt ist vielleicht etwas übertrieben, aber im Gegensatz zu unserer verschwitzten und dreckigen Wanderkleidung kam mir der Kontrast schon sehr extrem vor. Und ich fühlte mich auf einmal seltsam fehl am Platz. Dabei war ich doch gerade sieben Stunden hier hochgewandert!

Und genau genommen hatten wir den Gipfel auch noch nicht erreicht, denn die Plattform, an der die Gondelfahrt und unser Wanderweg enden ist noch nicht der höchste Punkt. Das bekannte goldene Gipfelkreuz befindet sich ein paar Meter höher. Der Weg dahin ist steil und mit Stahlseilen und Eisensprossen gesichert. Wir diskutieren kurz, ob dieser Gang überhaupt noch notwendig ist. Doch in unserem Stolz, die Tour geschafft zu haben, möchten auch wir gerne ein Bild mit Deutschlands höchstem Gipfelkreuz.

Hätten wir gewusst, wie lange wir dafür in der Schlange stehen müssen, hätten wir uns das vielleicht anders überlegt. Die meisten Menschen in der Schlange sind, so wie wir es wahrnehmen, und an dem leichten Schuhwerk zu erkennen, mit der Gondel hergekommen. Der nun folgende Weg zum Gipfelkreuz ist zwar nicht lang aber alpin und selbst mit passender Ausrüstung mit Vorsicht zu genießen. Die Wartenden werden langsam ungeduldig und drängeln sich hintereinander weiter den Weg nach oben, obwohl jetzt schon kaum Platz ist. Oben können wir den Moment nicht genießen – wir machen schnell ein Foto und sind heilfroh, als wir wieder unten sind bzw. den überfüllten Zugspitzgipfel verlassen.

Wir sprechen noch oft mit Freundinnen und Bekannten darüber, wie konträr die Wanderung zu dem Gipfelerlebnis in unserer Erinnerung geblieben ist und wie gefährlich die Situation an diesem Kreuz war. Und oft stelle ich mir die Fragen: Sind Gipfel(kreuze) für alle da? Ist es wirklich notwendig, ein Foto mit dem Kreuz zu machen, wenn man es nicht mit reiner Muskelkraft erklommen hat? Aber in welcher Position befinde ich mich, darüber zu urteilen? Viele Menschen haben aus den unterschiedlichsten Gründen nicht die körperlichen Voraussetzungen, den Gipfel vom Tal ausgehend mit eigener Kraft zu erreichen. Ist es nicht unfair, ihnen das Recht abzusprechen, ein Foto mit dem Gipfelkreuz zu machen? Ist es nicht vielmehr eine schöne Gelegenheit, dass sie die Bahn nutzen können und somit auch die Möglichkeit haben, auf Deutschlands höchsten Gipfel zu kommen?

Im Fall des Zugspitzgipfelkreuzes ist es schade, dass man nicht auf die Vernunft erwachsener Menschen vertrauen kann, die sich am Gipfelkreuz leichtsinnig und mit ungeeigneter Ausrüstung in Gefahr bringen. Der Aufstieg zum Gipfelkreuz muss nicht sein, man kann den Ausblick auch von der sicheren Zugspitz-Plattform genießen, wenn man sich nicht sicher genug für den Aufstieg fühlt. Seit meinem Besuch vor einigen Jahren habe ich bereits damit gerechnet, dass das Kreuz aus Sicherheitsgründen bald gesperrt wird. Die Lösung eines zweiten Gipfelkreuzes mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, ist natürlich die elegantere Alternative zu einer vollständigen Sperrung. Dennoch bleibt die Frage offen, wer diesen Fotospot tatsächlich nutzt und wie viele Menschen sich weiterhin auf den Weg zum „Original“ machen. Das zweite Gipfelkreuz befindet sich im Gebäude der Bergbahn, vor einer Fototapete.

Die schwierige und komplexe Frage, ob Berge für alle da sind, wird oft diskutiert. Unter einem Artikel zur Situation auf der Zugspitze kommentiert eine Person: „Der Zugspitzgipfel ist bergsteigerisch eh verloren.“ Dieser Satz bleibt mir im Kopf, denn auch ein zweites Gipfelkreuz wird natürlich nichts an dem Andrang auf den Gipfel ändern. So schön die Wanderung zu Deutschlands höchstem Berg auch war – ich werde ihn aufgrund der Situation am Gipfel sicherlich kein zweites Mal besteigen. Viel lieber denke ich an eine Tour auf einen "unbekannten" Berg in Österreich mit ungefähr gleicher Höhe, aber ohne Bergbahn. Oben angekommen saßen wir mit wenigen anderen Wandernden entspannt in der Sonne und konnten die besondere Gipfelstimmung genießen.

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In unserer Kolumne "Veni.Vidi.Wandern" setzen wir uns mit verschiedenen Gedanken rund um unsere Leidenschaft und Arbeitswelt, dem Wandern, auseinander. Mal ernst hinterfragt, mal amüsant erzählt, vielleicht auch mal auf Abwegen – kurzum, hier schreiben wir nach Lust und Laune, was uns beim Wandern durch den Kopf geht. 

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