Minette: Industrie-Nostalie
Viele Luxemburger haben noch gar nicht registriert, daß es im Land der roten Erde nicht mehr nur stinkt und lärmt. Zwischen den „Red Canyons" aufgewachsen, erzählt Jos Feller wehmütig von der rostigen Note in der Luft und dem Rattern der Erzgondeln.
Hhhrrrmm. Die 30-Tonner auf der anderen Seite des Prenzebiergs zünden und röhren umher. Der Seilbahnmotor springt an. Kling-kling, klang-klang macht es, wenn die Seilbahngondeln über die Pfeiler springen. Das alles um ca. 6 Uhr morgens. Die Geräuschkulisse nimmt jedem Wecker die Arbeit ab, und so kam Jos Feller wahrscheinlich stets pünktlich zur Schule.
Spätestens nach dem Mittagessen zog die etwa 20 Minuten entfernte Quelle des Lärms den kleinen Jungen aus Petingen magisch an: Allein oder mit seinen Kumpels schlich er sich an den Aufsehern vorbei den Prenzebierg hinauf. An der Abbruchkante legte er sich auf den Bauch und beobachtete das Geschehen in der Tagebau-Erzgrube „Schlammfeld". Vielleicht sind ja die neuen GMC-Trucks schon angekommen!
Eine Region mit Vergangenheit: Erzabbau und Stahlverhüttung
Petingen (französisch: Petange, „ingen" wird zu „ange") ist neben Differdingen, Düdelingen, Rümelingen, Rodin-gen, Kayl, Esch-sur-Alzette u.a. eine der vielen einst von Erzabbau und Stahlverhüttung lebenden Städte am Nordrand des lothringisch-luxemburgischen Eisenerzlagers. Die erzhaltigen Schichten - und auch die gesamte Region - werden verniedlichend als „Minette" bezeichnet. Der Eisengehalt des Gesteins ist mit etwa 30 % recht niedrig. Im Gegensatz dazu wurde das Raseneisenerz oder Bohnerz auf den Feldern als „Mine forte" bezeichnet.
Die Erfindung des Thomas-Verfahrens 1879 bereitete der Minette ihren Aufschwung. Das bei der Verhüttung störende Phosphor konnte nun aus dem Roheisen entfernt und hervorragender Stahl produziert werden. Erzabbau und Stahlindustrie boomten in Südwestluxemburg, bis es Anfang der 1970er kriselte: Schlechte Konjunktur, Automatisierungsprozesse und Überalterung der Stahlhütten führten zu Schließungen. Am 10.12.1981 verließ die letzte Erzramme den Thillenberg bei Differdingen.
Tümpel mit Gequake: Froschkonzert
Auch das Schlammfeld wurde 1978 stillgelegt. Jos Feller steht an einer scharfen Abbruchkante oberhalb des ehemaligen Tagebaus, den Fuß lässig auf einen Pfeiler gestützt. Sein Blick schweift hinüber zum Prenzebierg, wo er früher herumlungerte. Auf dem Knie hat er ein aufgeschlagenes Buch. Es zeigt ein Bild von damals, als die Maschinen noch herumfuhrwerkten. Jetzt sieht es unter ihm ganz anders aus: Es gibt kaum noch kahle Stellen. Und wenn, dann leuchtet ihr Rot richtig kräftig im Kontrast mit dem frühsommerlich zarten Grün der aufkommenden Birken, Pappeln und Weiden. Nur die Geländeform mit den markanten Treppen des Tagebaus ähnelt dem wüsten Bild im Buch. Wildes Gequake schallt aus dem baumbestandenen Tümpel auf der untersten Terrassenstufe. Zwei der „Mouken", wie Jos sie nennt, liefern sich ein wahres Rededuell. Zwischendurch kochen die Gemüter der grün-braunen Zuhörer richtig hoch, und alle wollen sich gegenseitig mit ihren Kommentaren übertönen.
Was von hoch oben wohlgeordnet und übersichtlich aussieht, hat von unten eine andere Dimension: Zur einen Seite überragen die steilen Felswände der Abbaufronten den Menschen wie ein Hochhaus, zur anderen Seite fällt der Blick auf die Kronen der auf der untersten Stufe wachsenden Bäume. Selbst von Bäumen und Büschen überragt, kann man schon die Orientierung in dem eigentlich so markant strukturierten Gelände verlieren. Nur mit gewaltigen Baggern und Frontladern war eine derartige Umgestaltung der Landschaft möglich. Lediglich das Hunnegfeld, ein Rest des ehemaligen Plateaus, und der Hangfuß sind ursprünglicher Gestalt. Ansonsten wurde das Erdreich - wie in einem riesigen Sandkasten - hier abgebaut und dort wieder hingeschüttet.
Minettsdapp: Vom Hauer zum Kundenberater
Jos Feller ist heute um die fünfzig und arbeitet als Kundenberater bei einer Bank. Luxemburg hatte Glück, denn der bis 1975 tragende Wirtschaftssektor, die Eisen- und Stahlindustrie, wurde auf dem Höhepunkt ihrer Krise durch den Bankenboom fast nahtlos abgelöst. Umschulung: vom Hauer zum Kundenberater! „De Minettsdapp" macht's möglich. Mehr als nur den luxemburgischen Bergmann bezeichnet der Begriff den besonderen Menschenschlag der „Terres Rouges": flexibel, zäh und ausdauernd. Er läßt sich nicht unterkriegen. Jos hat sich nach der Primarschule gegen die Bergarbeiterschule und für das Lyceum entschieden. Schon vor dem Examen seiner ohnehin verkürzten Ausbildung (der Finanzplatz brauchte Arbeitskräfte) bekam er von seiner Bank ein Schreiben, ob er nicht dort arbeiten wolle. An den Wochenenden durchstreift Jos heute seine Heimat. Die meisten Winkel kennt er. Seine Frau setzt ihn irgendwo ab, und er wandert zurück.
Eine seiner Lieblingsecken ist ein älterer Tagebau zwischen Rümelingen und Kayl. Glühendrot ragen in der Abendsonne die „Grand Canyons", die Wände der Perches- und Hesselbiergfront in die Höhe. Ein Pfad schlängelt sich zwischen etwa zweimannshohen, von moosgepolsterten Steinen aufgeworfenen Haufen hindurch. Auch Farn und Blumen wachsen darauf. An den engeren Stellen wird es spürbar feuchter und kühler. Leichter Modergeruch macht sich breit. Gänsehaut. Der Pfad verschwindet kurz zwischen von Efeu und anderen Pflanzen berankten Bäumen. Dunkel. Die Natur war hier eindeutig schon länger am Werk als im Schlammfeld. Außerdem ist alles viel verwinkelter und unebener. Hinter jeder Kurve überrascht ein neues Bild. Die Steine sind viel kleiner. Alles deutet auf Handarbeit. Vermutlich schloß dieser Tagebau schon kurz nach dem 2. Weltkrieg seine Tore, bevor große Maschinen zum Einsatz kamen. Von Hand abgeräumt, wurden „die Berge" nur kleinräumig versetzt, Abbau und Halde lagen viel dichter beieinander. Jos findet diesen Tagbau irgendwie „menschlicher".
Und er rätselt gerne auf seinen Wanderungen: „Wahrscheinlich folgt der Pfad der alten Bahntrasse. Die aufgehäuften Steine an manchen Abraumhalden könnten ehemalige Brückenpfeiler sein. Ich habe in einem Buch ein Bild gesehen, auf dem kleine Brücken die Hügel miteinander verbinden. Vermutlich, damit sich Grubenbahn und Arbeiter nicht in die Quere kamen." Manchmal fährt er zum Wandern an die Saar. „Dort sind noch die Geräusche. Die Leute hier konnten lange Zeit nicht glauben, daß die Seilbahn nie mehr rollen würde, als die Grube zu war. Das fehlt, auch wenn es laut war, und ein weißes Sockenpaar sich nach einem halben Tag schwarz verfärbte." Der rostige Duft von Eisenerz liegt auch nicht mehr in der Luft. Er kann ihn nicht beschreiben, er hat ihn in der Nase. Ebenso die Mischung aus Schweiß und Eisenstaub im blauen Arbeitsanzug seines Vaters, wenn er ihn von der Schicht bei der Rodinger Grubengesellschaft abholte. Der Schwefelgeruch der Kokereien im Saarland erinnert ihn am ehesten daran. „Das ist sicher nicht gesund, aber für mich ist es ein Stück Heimat."