10.32 Uhr. Paris, die Frisur sitzt. Ich bin gerade aus der Metrostation Porte Maillot ausgestiegen. Und mache als guter Tourist ein Erinnerungsfoto von den viel besungenen “Ooooooh Schomps Deliseee” und dem Arc de Triomphe. Doch ich begebe mich nicht auf Shopping-Tour, ich steuere den Bois de Boulogne an, den Startpunkt meiner Wanderung durch Paris. Wandern durch Paris, das ist keine fixe Idee von mir, in Paris gibt es einen markierten Wanderweg, der 2011 sein 20-jähriges Jubiläum feiert.

Vor einigen Jahren habe ich Armand beim Wandern in der Schwäbischen Alb kennen gelernt. Armand ist Vizepräsident des französischen Wanderverbands und spricht als Elsässer und ehemaliger Deutschlehrer ein derart fließendes, akzentfreies Deutsch, dass ich nicht meine kümmerlichen Französisch-Kenntnisse bemühen musste, um mit ihm zu kommunizieren. Armand drückte mir einen Wanderführer in die Hand: Paris à pied, Paris zu Fuß. Ich bin schon um Saarbrücken und Köln gewandert, das waren jeweils Stadtumrundungswege. Viel Grün, wenig Innenstadt. In Paris ist das anders. Es gibt eine Nord-Süd- und eine Ost-West-Traverse. Beide Traversen führen mitten durch die Metropole. Ich werde die Stadt vom Bois de Boulogne im Westen bis zum Bois de Vincennes im Osten durchwandern.

Der Bois de Boulogne wird kurz der Bois genannt. „Bois” heißt Wald, „bois” kann man aber auch in der ersten und zweiten Person Singular von trinken = boire ableiten: je bois, tu bois, oder einfach bois! = Die Aufforderung zu trinken. Schon komisch, dass „Wald” und „Trink!” das gleiche bedeuten. Schatz, ich gehe im „Trink!” wandern, wie hört sich das denn an? Die spinnen, die Franzosen. Im Bois bin ich – das war zu erwarten – der einzige Wanderer. Alle anderen sind typische Großstadt-zu-Füßler. Jogger und viele Hundebesitzer. Was die Hundehaltung angeht, scheinen die Franzosen anders als die meisten Deutschen zu ticken. Es gibt wohl einen Nicht-Anlein-Zwang in Wäldern und Parks. Höhepunkt der Pariser Hunde-Seeligkeit ist das Zusammentreffen von zwei Hundenarren, die es insgesamt auf neun Hunde (neuf chiens!!!) bringen. Dass ich überlebe, als ich mich hurtigen Schrittes an den unangeleinten Bestien vorbeischmuggele, grenzt an ein Wunder. Ich habe großen Spaß an den Wegen im Bois, die sind wirklich schön. Geschwungen führen sie an kleinen Bächen vorbei, hier und da sehe ich Kaskaden, pittoreske kleine Brücken überqueren den Bach, magnifique!
Ich kreuze eine Straße, die durch den Bois führt, und sehe eine Dame am Straßenrand, die gerade ihr Haarband verloren hat. Weil sie hochhackige Lackstiefel trägt, kann sie sich schwer bücken, ich überlege, ihr zu helfen, man ist doch Kavalier und Gentleman. Ich traue mich aber doch nicht, denn mein Haarband-Aufheben könnte sie vielleicht als Interesse an ihren Diensten verstehen… Schon im 17. und 18. Jh. war der Bois  als „Ort heimlicher Liebschaften und diesbezüglicher kommerzieller Angebote bekannt“, wie der Reiseführer schreibt.

Weiter durch den Bois. Es raschelt im Laub. Ein Vogel, ein Windhauch, ein Eichhörnchen? Nein, nur eine schmucklose Ratte quert meinen Weg. Igitt, mag nun mancher Leser denken, das ist ja eklig. Ist aber alles halb so schlimm, finde ich. Zum einen ist so ein kleines Nagetier recht großstadt- um nicht zu sagen weltmetropolentypisch. In New York übersteigt die Zahl der Ratten schon lange die der menschlichen Bevölkerung. Und zweitens sind diejenigen, die angesichts einer Ratte „Igitt” schreien, die ersten, die die kleine Ratte in dem Zeichentrickfilm „Ratatouille” total super-süß finden. Die Geschichte der Wanderratte (!) Rémy, die in der Pariser Spitzengastronomie eine Karriere startet, ist ja auch in der Tat allerliebst.

Nach sechs Kilometern im Bois gehe ich am Ufer eines Sees. Idyllisch ist ein Restaurant auf der Insel des Sees gelegen, nur durch eine kleine Fähre zu erreichen.

11.42 Uhr. Die Frisur sitzt erstaunlicherweise immer noch, ich trete aus dem Bois und stürze mich in das Straßengewühl von Paris. Dabei muss ich schnell feststellen, dass Zebrastreifen für französische Autofahrer eine andere, eher symbolische, oder sagen wir ästhetische Funktion haben als bei uns. Man muss einfach schnell sein, dann erwischen sie einen auch nicht.

Einige Straßen weiter erhasche ich meinen ersten Blick auf den Eiffelturm, genau an der Stelle, an der das Haus von Balzac steht, in dem er von 1840 bis 1847 wohnte. Das Haus liegt an einem zur Seine abschüssigen Hang und hat zwei Hauseingänge zu beiden Straßenseiten. Und wenn beim notorisch verschuldeten Balzac die Gläubiger kamen, büchste der alte Vielschreiber zur Hintertür aus. Damals konnte er noch nicht über die Pont de Bir-Hakeim die Seine überqueren, da die erst um 1905 fertiggestellt wurde. Als ich über diese Brücke gehe, habe ich ein Déjà-vu, ich bin eben in der französischen Hauptstadt, da ist ein Déjà-vu quasi im Preis inbegriffen. Dann fällt es mir ein, ich habe doch zuletzt Leonardo di Caprio im Traum-Thriller „Inception“ auf der Pont de Bir-Hakeim gesehen. Auf dieser Brücke haben auch schon Nicolas Cage und Audrey Tautou (als Amélie, kennt doch jeder) gedreht.

An der Seine treffe ich immer mehr Leute. Klar, die wollen alle zu diesem überdimensionalen, etwas überschätzten Pariser Aussichtsturm. Meine persönliche Meinung zur Besteigung von Aussichtstürmen während einer Wanderung habe ich oft geäußert. Meistens sind die Türme hässlich, der Mehrwert des Ausblicks ist bescheiden und der Aufstieg torpediert die Wanderdurchschnittsgeschwindigkeit. Also werde ich mich auch heute nicht in die Schlange einreihen, um einen der überteuerten Aufzüge auf den Eiffelturm zu nutzen.

Aber: ich esse etwas unter dem Turm. Ein Gebäckstück, das wie ein Berliner aussieht, aber mit Apfelmus gefüllt ist, ausgesprochen gut schmeckt und mit zwei Euro erstaunlich erschwinglich ist. Auch die Pommes frites (French fries, oder wie es in French heißt: Barquette de frites ) sind lecker und kosten nur drei Euro fünfzig. Den Ketchup gibt es sogar kostenlos obendrein.

Bei meiner Wanderung durch Paris muss ich immer wieder meine Schrittgeschwindigkeit den Gegebenheiten einer Großstadt anpassen. Manchmal laufe ich fast. Denn die Avenues, die ich überquere, sind oft vielspurig und ein Schild weist alle Fußgänger darauf hin, dass man zwei Ampelphasen brauche, um diese Prachtstraßen zu überqueren. Kinderkram, ich versuche natürlich spurtend die Straße in einem Rutsch zu schaffen. Zum anderen habe ich oft sehr langsame, zumeist amerikanische Touristen vor mir, und muss meinen Wanderschritt dem Schlendertempo anpassen. ...