Spätestens seit der Epoche der Romantik ist das Wandern ein zentrales Motiv in der Literatur. Was als einfache (in manchen Fällen auch einzige) Art der Fortbewegung begann, wurde schnell zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich. Wandern bedeutet frei sein, Unbekanntes entdecken und vor allem seiner Sehnsucht nach dem Fernen nachgeben. Nicht zuletzt Eichendorffs Taugenichts gilt als ein bedeutender Wanderer der Literaturgeschichte. Dieser beginnt seine Wanderschaft zwar nicht aus freien Stücken – sein Vater wirft den faulen Sohn aus dem Haus. Dennoch genießt er das Unterwegssein und zieht fröhlich in die weite Welt hinaus. Er erfreut sich an der Natur und an den neuen Landschaften, die er kennenlernt. Das Fernweh treibt ihn dabei ständig vorwärts.
Nicht immer wird das Wandern in der Literatur positiv dargestellt. Denkt man zum Beispiel an die „Winterreise“ von Wilhelm Müller aus dem Jahr 1827 (auch bekannt in der Vertonung durch Franz Schubert), wird Wandern nicht als erfreulich erlebt. Ganz im Gegenteil, das lyrische Ich wird konfrontiert mit der Einsamkeit und der Ziellosigkeit seines Umherstreifens. Schnell wird das Wandern zur Last, ja beinahe zur nicht enden wollenden Qual in einem eiskalten Winter. Wie sehr wünscht sich das lyrische Ich zurück in die Geborgenheit seiner Heimat, einfach anzukommen und einzukehren. Doch stattdessen wandert es immer weiter und verliert sich vollends in seiner Hoffnungslosigkeit.
Zugegeben, dies ist ein sehr drastisches Beispiel für das Wandermotiv in der Literatur. Es gibt jedoch unzählige weitere Werke, die sich mit dem Thema beschäftigen und das Gehen in der Natur in all seinen Nuancen beschreiben. In vielen Romanen, Novellen und Gedichten steht das Entdecken der Natur – sprich das Wandern – im Vordergrund. Auch waren bedeutende Schriftsteller wie z. B. Hermann Hesse oder Johann Wolfgang von Goethe selbst begeisterte Wanderer und erzählten in ihren Texten gerne von dieser Leidenschaft.
Ein Teil der Wanderwelt
Wandern ist also Teil der Literaturgeschichte. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Literatur ein Teil der Wanderwelt geworden ist. Auf Literaturwanderwegen lassen sich die Spuren berühmter Literaten verfolgen. Die Wege machen erlebbar, wie eine Region den Autor zu literarischen Meisterwerken inspirierte. Worte, Beschreibungen und Szenarien der Literaturgeschichte werden an Ort und Stelle plötzlich lebendig. Sie nehmen den Wanderer mit auf eine Reise in die Vergangenheit, zeigen Orte, an denen einst große Werke verfasst worden sind.
Auf den Spuren der Literaten
Einige Literaturwanderwege legen den Schwerpunkt weniger auf die Literatur an sich. Sie folgen den Spuren der Schriftsteller, die in der jeweiligen Region lebten, arbeiteten oder auch Urlaub machten. Die Wege sind so angelegt, dass wichtige Stationen ihres Lebens und Schaffens erwandert werden.
Thomas-Mann-Themenweg Bad Tölz
Im oberbayerischen Bad Tölz verläuft der 3 km lange Thomas-Mann-Themenweg. Eröffnet im Sommer 2019, führt der Weg zu acht Stationen aus dem Leben Thomas Manns. Gestartet wird an der Stadtbibliothek Bad Tölz. Dort befindet sich ein originalgetreuer Nachbau von Thomas Manns Arbeitszimmer. Weitere Stationen sind die Sommerresidenz der Familie, der Klammerweiher, wo die Kinder Manns schwimmen lernten, oder auch der Bahnhof als Ausgangs- und Endpunkt vieler Reisen. Historische Bilder, Zitate und Textpassagen zum Leben und Wirken des Autors auf Stelen in Form eines Buches runden das kulturelle Wandererlebnis ab.
www.bad-toelz.de
Goethewanderweg in Ilmenau
Dort, wo Goethe arbeitete, schrieb und die Natur genoss, verläuft heute der Goethewanderweg. Auf 20 km folgt der Weg von Ilmenau nach Stützerbach in Thüringen den Spuren des Dichters. Im Amtshaus am Markt in Ilmenau zum Beispiel, der früheren Arbeitsstätte Goethes, befindet sich heute das GoetheStadtMuseum. Hier steht der Wanderer nicht nur auf denselben Dielen, auf denen einst Goethe stand, sondern findet auch allerhand Informationen zu seinen Werken. Weitere Ziele der Wanderung sind der Schwalbenstein und die Höhle Helenruhe. An diesen Orten schrieb Goethe einige seiner bekanntesten Texte, so z. B. den vierten Akt der „Iphigenie auf Tauris“. Literarischer Höhepunkt ist das Goethehäuschen auf 861 m Höhe. Im Jahr 1780 verfasste Goethe dort sein berühmtes Gedicht „Wandrers Nachtlied“. Nachlesen lässt es sich an den Wänden des Häuschens. Jedoch nur in Kopie, das Original brannte mitsamt der ursprünglichen Hütte im Jahr 1870 ab.
www.ilmenau.de
In Hölderlins Landschaft
Rund um Nürtingen bei Stuttgart führt der literarische Wanderweg „In Hölderlins Landschaft“ auf 12 km zu elf Stationen im Leben Friedrich Hölderlins. Der Schriftsteller kam im Alter von vier Jahren in die kleine Stadt und blieb bis an sein Lebensende mit ihr verbunden. Informieren über Hölderlin, seine Werke und seinen Bezug zur Stadt kann man sich im Stadtmuseum Nürtingen. Einen Einblick in die Jugend des Klassikers erhält man am Hölderlin-Garten, in dem Hölderlin spielte und entspannte. Mit dem Naturdenkmal Ulrichstein trifft man auf ein beliebtes Ausflugsziel des Dichters. Als begeisterter Wanderer erkundete er gerne die Umgebung, die auch seine Texte beeinflusste.
www.hoelderlin-nuertingen.de
Jean-Paul-Wanderweg
Wandern auf den Spuren des Romantikers Jean Paul kann man auf dem Jean-Paul-Weg in und um den Naturpark Fichtelgebirge. In 200 km von Joditz bis Sanspareil, eingeteilt in zehn Etappen, führt der Weg zu Lebensstationen des berühmten Dichters. Er folgt Wegen, die Jean Paul als Wanderer selbst nahm, führt zu Orten, die ihn literarisch inspirierten. In Bayreuth trifft man z. B. auf die Rollwenzelei, eine Wirtschaft, in der Jean Paul eine Stube mietete. Der Ort wurde zu einem seiner wichtigsten Arbeitsräume und ist bis heute die berühmteste Jean-Paul-Gedenkstätte. Text-Tafeln am Weg nehmen den Wanderer mit in die literarisch-philosophische Welt Jean Pauls. Wer Literatur lieber hört, kann sich an manchen Stationen des Weitwanderwegs originale Texte vorlesen lassen. www.tz-fichtelgebirge.de
Inspirierende Regionen
Obwohl in gewisser Weise jede Region inspirierend für einen Schriftsteller ist, gibt es auch Orte, die als direkte Vorlage für literarische Werke dienen. Sei es als Schauplatz für eine fiktive Geschichte oder als detailgetreuer Reisebericht: Regionen, Dörfer und Wege regten zum Schreiben an. Auch diesen kann man auf Literaturwanderwegen nachspüren.
Falladas Fridolinwanderung
Hoch oben im Norden Deutschlands verläuft der Literaturwanderweg „Falladas Fridolinwanderung“. Auf 10 km führt er durch die hügelige Feldberger Seenlandschaft, vorbei an weiten Sandern und in der Sonne glitzernden Seen. In eben dieser Region erlebt der Dachs Fridolin aus Hans Falladas Kinderbuch „Fridolin, der freche Dachs“ viele Abenteuer. Der Autor schrieb diese Geschichte im Jahr 1944 für seine Tochter Lore, die selbst gerne durch die bewaldeten Hügel streifte. Auf dem Wanderweg entdeckt man die idyllische Umgebung, die den Autor zu seinem Buch inspirierte. Alte, handbetriebene Fähren, begehbare Moore oder auch das Wohnhaus Hans Falladas sind Ziele des Weges. Besonders viel Spaß macht die Wanderung, wenn man zuvor die Geschichte gelesen hat und die Orte, an denen Fridolin seinen Schabernack treibt, wiedererkennt.
www.feldberger-seenlandschaft.de
Fontaneweg F6
Die Region Brandenburg inspirierte Theodor Fontane zu seinem umfangreichsten Werk, den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. In fünf Bänden, verfasst zwischen 1862 und 1889, beschreibt er höchst detailliert, wie er die Region damals erlebte, greift regionale Legenden auf und stellt historische Bezüge dar. So umfangreich seine literarischen Erlebnisse durch Brandenburg sind, so vielfältig sind auch die heutigen Wanderwege, die seinem Blick folgen. Einer dieser Wege ist der Fontaneweg F6, der auf 20 km rund um den Schwielowsee bei Potsdam führt – laut Fontane einer der reizvollsten Seen im Märkischen Land. Besonders spannend: bei der sogenannten „Lauschtour“ können Wanderer den Weg erleben und gleichzeitig den Eindrücken und Beschreibungen Fontanes über eine Handy-App lauschen. Übrigens wäre Fontane dieses Jahr 200 Jahre alt geworden. Die Region Brandenburg feiert seinen Geburtstag mit vielen Veranstaltungen und Festen.
www.reiseland-brandenburg.de
Heinrich-Heine-Weg
Als junger Student wanderte Heinrich Heine einst durch den Harz zum Brocken und war begeistert von den verschlungenen Waldwegen und idyllischen Wiesentälern, ganz zu schweigen vom Panoramablick am Berggipfel. Zwei Jahre später, im Jahr 1826, verfasste er die „Harzreise“, einen seiner bekanntesten Texte und deutschsprachigen Reiseberichte überhaupt. Erleben, was Heinrich Heine sah und beschrieb, kann man heute auf dem Heinrich-Heine-Weg. Auf 11 km führt der Weg von Ilsenburg aus zum Brocken. Dort befindet sich auch ein Gedenkstein zu Ehren des Schrifstellers.
www.ilsenburg-tourismus.de