Viele Menschen erinnern sich an eine Kindheit, in der das Gehen oder Schlendern durch die Natur sowie das Entdecken unbekannter Orte das Draußensein prägte. Als Kind ist man noch frei von Pflichten und Terminen, lebt unbeschwert in den Tag hinein und hat Zeit, seine Umgebung wirklich zu erkunden und wahrzunehmen – und zwar gehend. Je älter man wird, desto mehr rückt bei vielen das Gehen in den Hintergrund. Die freie Zeit sowieso. Stress, Hektik und oftmals ein Sitzjob werden zum Alltag vieler Menschen. So ergangen ist es auch dem norwegischen Journalist und Buchautor Torbjørn Ekelund. Die Wege seiner Kindheit wichen den asphaltierten Straßen der Stadt, das Gehen wurde vom Autofahren abgelöst und das Entdecken und Erkunden der Umgebung war in der modernen Welt nicht mehr nötig.
Ein Schicksalsschlag aber änderte alles. Torbjørn Ekelund erhielt die Diagnose Epilepsie – und damit die Information, dass er von nun an nie mehr Auto fahren könne. Sein neues Leben bestand von diesem Tag an gezwungenermaßen aus Gehen; all seine Wege legt er seitdem zu Fuß zurück. Statt als Last aber empfindet er es als Offenbarung und Erleichterung, denn er nimmt die Welt um sich herum wieder bewusster wahr – wie einst als Kind.
„Ich gehe weit, würde aber gern noch viel weiter gehen. Ich würde gerne alles hinter mir lassen und nur gehen, Tag um Tag, Tausende von Kilometern, auf Wegen, die ich nie zuvor gegangen bin, und zu Orten, die ich noch nie im Leben gesehen habe.“
Mit der eigenen Wiederentdeckung des Gehens widmet sich Torbjørn Ekelund auch der Frage nach der Geschichte des Gehens. Wieso bewegen wir Menschen uns gehend fort? Wieso und wann haben wir einst damit begonnen? Wo sind die ersten Wege und Spuren entstanden?
In einem Querschnitt von der Urzeitgeschichte bis hin zu Romantik und Moderne beleuchtet er die Entwicklung des Gehens. Informative und wissenschaftliche Erklärungen wechseln sich ab mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen. Er nimmt die LeserInnen mit auf eine abenteuerliche Wanderung in die Nordmarka, ein großes Waldgebiet nördlich von Oslo, zitiert berühmte Philosophen und Dichter, die im Gehen ihre Weisheit fanden, und lässt Erinnerungen an eine kleine Waldhütte lebendig werden, die das Leben der Familie seit jeher prägte: Fast jeden freien Tag verbrachte Torbjørn Ekelund mit seinen Eltern und seinen zwei Geschwistern in der kleinen Hütte, den Weg dorthin und den Wald rundherum kannte er in- und auswendig. Ihn zu gehen und jedes Mal neu zu entdecken, war als Kind selbstverständlich.
Immer wieder erinnert er sich an die Wegeführung, an die Brücken und Baumgruppen, an denen die Familie picknickte. Erinnert sich an das Glücksgefühl, den Weg allein geschafft zu haben und das Gefühl von Geborgenheit, wenn nach einem langen Tag draußen in der Natur die warme Hütte wartete. Als erwachsener Mann möchte Torbjørn Ekelund den Weg wieder gehen. Hat er sich verändert? Ist er noch so wie in seiner Erinnerung? Voller Achtsamkeit und Langsamkeit entdeckt er den Weg seiner Kindheit neu, lässt sich treiben von seinen Gedanken und begibt sich so auf eine Reise in seine Vergangenheit.
„In unserer Kultur dreht sich alles darum, der Schnellste zu sein, niemals darum, der Langsamste zu sein. Ich kam mir daher wie Pionier des Gehens vor. Einen ganzen Tag würde ich so langsam wie möglich gehen. So etwas hatte, soweit mir bekannt war, noch niemand vor mir getan.“
Fazit: Ein emotionales und zugleich informatives Buch über Schicksal und Vergangenheit, Geschichte und Naturgeschehen. Schon das Lesen fühlt sich entschleunigend an. So regt das Buch an darüber nachzudenken, auch aus dem eigenen Leben etwas Tempo zu nehmen und einfach mal gehend die Welt zu entdecken, ohne Stress, ohne Zeitdruck, nur mit Freude und offenen Augen – wie man es als Kinder ganz selbstverständlich getan hat.
Torbjørn Ekelund
Gehen – eine Wiederentdeckung
Piper Verlag
208 Seiten, Halbleinenband
EAN 978-3-89029-528-2
€ 18,00