Wense (1894-1966) war Enzyklopädist, Musiker und: Wanderer. Das Herausragende ist, dass er mit einem Überschwang vom Wandern schreibt, wie andere von Schmuckstücken oder großen Feldzügen berichten. Für ihn ist „Wandern der Gegensatz von Spazierengehen, es ist Landnahme, Eroberung“. Seine erste Wanderung von Bad Karlshafen in Nordhessen nach Westfalen 1932 „änderte mein gesamtes Leben, [ich] änderte Gewohnheiten, kündigte allen Freundschaften“. Huch, wie Wandern einen Menschen verändern kann. Und was Wense empfand war gigantisch: „Eine Landschaft, in der alles ewig ist“, schreibt er, dieses „Land ist das Subtilste, das ein geistiger Mensch in Deutschland erfahren kann.“
So, so. Grober und ich wollten das überprüfen. War der Wense ein bisschen spinnert? Oder können wir 70 Jahre nach ihm auch die Subtilität der Warburger Börde erfassen? Wir treffen uns in Bad Karlshafen, einem wunderlichen Städtchen, aus dem Boden gestampft, um hugenottischen Flüchtlingen Wohn- und Arbeitsraum zu geben. Dort, wo die Diemel in die Weser fließt, stehen uniformierte Häuser, alles in einer traumhaften Märchenlandschaft gelegen.
Grober und ich gehen um 8.00 Uhr an einem schwül-bedeckten Spätsommertag los. Wir verlassen das Städtchen, passieren kurz vor dem Wald ein grässliches Schützenhaus, errichtet 1971. „Ein Jahr vorher habe ich noch Adorno zu Füßen gesessen, bei seiner Vorlesung”, sagt Grober. Es war die letzte Vorlesung des Frankfurter Philosophen, berühmt geworden durch die Erstürmung des Hörsaales durch barbusige Protest-Studentinnen. Beeindruckend, dass mein Wanderpartner dort anwesend war. Wir gehen durch einen morgendlich feuchten Buchenwald, ich bin noch etwas steif. Wir reden über Wanderthemen: Premiumwege, den Deutschen Wanderverband, so ein Zeug eben.
Auf dem Weg am Hang stoppt mich Grober, kriegt sich gar nicht mehr ein vor Freude: Ein Feuersalamander quert unseren Weg. „Oh, toll”, sage ich lahm. Dabei habe ich seit Lurchis Abenteuern keinen Salamander in echt gesehen. Grober dagegen ist begeistert: „Seit zehn Jahren suche ich nach einem Salamander, wie viel Totholz und Steine habe ich schon hochgehoben, um einen zu finden – vergeblich! Das Tier ist nachtaktiv, liebt Buchenwälder.” Nur mühsam kann sich Grober losreißen. Zehn Jahre hat er gewartet – aber zehn Minuten später sehen wir den nächsten Salamander.
Nach einer guten Stunde überqueren wir die Diemel. „Die Diemel ist ein intelligentes Flüsschen, einer der charaktervollsten Flüsse Europas.“ Wenn man wegen solcher Zuschreibungen für einen Fluss (!!!) Wense für ein bisschen irre hält, ist das bestimmt nicht ganz falsch. Aber gleichzeitig ist dieser absolut unironische Überschwang mitreißend, wohltuend auch, wenn man es in unserer obercoolen Zeit liest.
Tatsächlich bin ich wirklich aufgeregt wie ein Pennnäler vor dem ersten Rendezvous, wie es denn nun wirklich hinter der Krukenburg aussehen wird. Wird die Landschaft wirklich nur annähernd so toll/inspirierend sein, wie sie Wense beschreibt?
Aber erst einmal die Krukenburg. Oberhalb des Diemeltals gelegen. Wir steigen den Turm hinauf und sehen kilometerweit ins Land hinein, sehen bis zum Deiselberg. „Mein Deißelberg“ nennt er ihn. Und über den Blick von der Krukenburg schreibt er, dass er „sah, mehr sah, tiefer, deutlicher“. „Ich sehe diese LINIE.“ Wir sehen viele Linien. Zwischen Krukenburg und Deiselberg liegen kleine Täler, viele Felder. Es ist schön, etwas live zu sehen, was der alte Wense so wortreich und meinungsstark beschrieben hat. Uns geht es sehr gut, wir fühlen uns beschwingt. Wir beschließen, ab nun bis zum Berg ohne Karte zu wandern, nicht auf Wege-Markierungen zu achten. Denn Wander-Extremist Wense rät, keine markierten Wege zu erwandern. Begründung: Die Förster wollen einen nur aus den besten Revieren heraushalten.
Also gehen wir los. An Feldrändern entlang, über Weiden und Bachläufe, mal nutzen wir einen Pfad, meistens nicht, oft gehen wir einfach querfeldein. Manchmal, in einem flachen Tal, verschwindet das Ziel, der Deiselberg, manchmal verdecken wuchernde Maisfelder die Sicht. Wir gehen wie Wense „stundenweit, ob Wasser, ob Dornen“, „hinein in das offene Bild der Flur“. ...