Noch als junger Mann wirkte die Heimat zu klein auf Oliver Lück. Deutschland und die Nachbarländer waren langweilig, zu eng, zu farblos. Das große Abenteuer, das wartete am anderen Ende der Welt. Im Dschungel Costa Ricas, auf den Vulkanen Sumatras – möglichst weit entfernt von der kleinen, einengenden Nachbarschaft.
So dachte der heutige Journalist und Fotograf zumindest in der Zeit nach seinem Abitur. Doch irgendwann begann er, auch das nahe Europa zu entdecken. In seinem ersten Auto, einem postgelben Bulli. Oliver Lück begab sich auf die Reise durch den heimatlichen Kontinent, damals noch ohne Technik, nur mit winzigen Straßenkarten ausgestattet. Sein Weg führte ihn quer durch Spanien, ans französische Mittelmeer, hinauf an die deutsche Nordseeküste. Er stellte fest, dass die europäischen Länder nicht langweilig, eng und farblos sind. Sondern ganz im Gegenteil: „Europa ist wild. Es ist weit. Es ist Kult. Es kann laut und vor allem sehr bunt sein.“ (S. 6)
Zeit zum Reisen
Oliver Lück begann seine erste Europareise im Jahr 1996. Und heute, knapp 20 Jahre später, reist er immer noch in seinem VW-Bulli durch die Länder – allerdings jetzt in einem blauen. Aber immer noch ohne Navi und Technik. Der Weg oder die Route sind nicht sein Ziel. Sein Ziel ist die Zeit. Zeit, unterwegs zu sein. Zeit, Länder zu entdecken. Und Zeit, um wunderbaren Menschen und Geschichten zu begegnen.
„An diesen Flecken La Gomeras, der zweitkleinsten der Kanarischen Inseln, verirrte sich nur selten jemand mit dem Auto. Denn hier, wo die Straße aufhörte, begann die Welt von Ernst.“ (S. 13)
Eine Auswahl seiner Begegnungen aus 20 Jahren Recherchereisen im Bus, stellt Oliver Lück in seinem Buch „Zeit als Ziel“ vor. Unterteilt in fünf Kapitel (Europa bunt, Europa weit, Europa laut, Europa wild und Europa Kult) versammelt das Buch Geschichten und Fotos von sämtlichen Orten und Jahren seiner Reisen. Ebenso bunt gemischt, wie Oliver Lück Europa empfindet, ist auch die Anordnung der kleinen Begegnungen. Es gibt keine chronologische oder regionale Ordnung. Auf eine Tour durch Nordirland im Jahr 2005 folgt zum Beispiel eine Reise ins europäische Russland nach Morskoje im Jahr 2015. Alle Geschichten sind unabhängig voneinander, sie stehen für sich.
Wunderbare Begegnungen
Oliver Lück nimmt uns mit in den bunten, kunstvollen Garten der Lettin Biruta Kerve, die nicht nur Kunst aus Müll macht, sondern außerdem einen Schatz an Flaschenpost aus der Ostsee hütet. Er stellt uns die „Wildnisfamilie“ in Portugal vor, eine achtköpfige Familie, die ihr Leben in Deutschland gegen die portugiesische Wildnis getauscht hat. Er lässt uns Menschen begegnen, die sich gegen Gesellschaft und Standards stellen, zeigt uns Landschaften fernab des Mainstreams. Unterstützt werden die zwar kurzen, zum Teil aber sehr rührenden und persönlichen Geschichten von eindrucksvollen Bildern. Naturaufnahmen von verlassenen Stränden, das Porträt eines alten, sonnengebräunten Eremiten, dessen Lächeln sofort ansteckt, oder Fotos von waghalsigen Jugendlichen, die sich Abenteuern stellen. Durch diese Bilder erkennt der Leser sofort, wie bunt und wild Europa eigentlich ist.
„Es ist einsam und dennoch nie ganz still. Es muss an den Geräuschen liegen, dass sich die Menschen an der windigen Nordwestspitze Spaniens immer neue Geschichten ausdenken. Am Donnern der Wellen, das wie ein Riese klingt, der mit schweren Brocken spielt. Am Heulen des Windes, das sich wie ein Lied aus der Hölle anhört. Am Meckern der Ziegen, das manchmal so heiser ist, dass man es mit dem Krächzen der Möwen verwechselt. Weil es an diesem Ort so wenig gibt, bekommt alles eine Stimme. Und eine Bedeutung.“ (S. 94)
Und zwischen all dem taucht immer wieder Locke auf, eine schwarzbraune Hovawart-Hündin. Im Alter von acht Wochen stieß sie zu Oliver Lück und begleitete ihn seitdem für elf Jahre auf seinen Reisen. Beinahe liest sich das Buch wie eine kleine Hommage an die treue Freundin, die viele Geschichten und Begegnungen möglich machte. Eindrücklich, bildhaft und sehr persönlich schildert Oliver Lück seine Erfahrungen in diesem Buch. Auch vermeintlich flüchtige Bekanntschaften schlagen sich als wunderbare Erinnerung an seine Reisen nieder, deren Ziel immer nur die Zeit war.
Oliver Lück
Zeit als Ziel
August 2019 (2. Auflage)
Hardcover, 320 Seiten
ISBN: 978-3-95889-245-3
€ 24,95