Frühmorgens treffe ich Marc Sommer an der Unternehmenszentrale von Hess Natur in einem Industriegebiet von Butzbach. Auf der nahen A5 staut sich der Verkehr, aber ein gut gelaunter Geschäftsführer im grünen Parka (natürlich ein Hess-Natur-Parka) begrüßt mich mit einem Hefeteilchen. Marc Sommer, 52 Jahre alt, ist seit knapp zwei Jahren der Chef von Hess Natur. Hefeteilchengestärkt fahren wir einige Minuten zum Ausgangspunkt unserer Wanderung am Ortsrand von Butzbach. Eigentlich ist die Firma Hess Natur, am Fuß des Taunus gelegen, ein idealer Ausgangspunkt für Wandertouren. Ich frage Sommer, ob es denn eine Betriebssportgruppe Wandern in seiner Firma gäbe. Er verneint, aber beim JP-Morgan-Firmenlauf in Frankfurt hätten sie teilgenommen. Das ist doch schon mal ein Anfang.

Unser Weg verengt sich ziemlich schnell zu einem ausnehmend schönen Pfad neben einem hübschen Bächlein. Ein Rascheln, Hess-Natur-Chef Sommer blickt auf: „Ein Reh, sogar ein Rehbock.“ Das ist mir entgangen, aber ich wandere auch mit einem Wild-Experten, denn Sommer hat den Jagdschein gemacht. Er hat aber nie aktiv gejagt, weil seine spätere Frau ihn vor eine einschneidende Entscheidung stellte. Nun, was soll man sagen, er hat sie dann geheiratet und eben nicht mehr gejagt. Wir passieren einen unscheinbaren Erdhügel. Soeben haben wir nicht den Rubikon, aber den Limes überschritten. Deutschland war eben nicht nur einmal in seiner Geschichte ein geteiltes Land, wir wandern nun im Land der barbarischen Germanen.

Marc Sommer hat einen spannenden Lebenslauf, er hat erst Wirtschaftswissenschaften und dann Komponieren und Dirigieren in Frankreich studiert. Seine Bundeswehrzeit hat er auch eigentlich eher am Klavier als am Schießstand verbracht. In der Waldkaserne von Hilden dirigierte Sommer sogar zeitweise die Bigband der Bundeswehr. Später hat der Hess-Natur-Chef Fingerfertigkeit als äußerst erfolgreicher Manager in sehr unterschiedlichen Branchen unter Beweis gestellt. In der Musikbranche bei BMG/Ariola, später dann beim in die Schlagzeilen geratenen Handelsriesen Arcandor, nun bei Hess Natur. Die Analogien zwischen Dirigent und Manager liegen auf der Hand: Beide müssen ein großes Team auf ein gemeinsames Ziel, ein gemeinsames Ergebnis einschwören. Als Dirigent kannte er seine Pappenheimer, das hat ihm als Manager natürlich geholfen. Aber fehlt ihm das nicht, am Pult mit dem Taktstock zu stehen, den Applaus nach einem gelungenen Konzert entgegen zu nehmen? „Ich kann auch nach der Rente noch ein großes Orchester dirigieren. Erst mit 80 Jahren wird man ein richtig guter Dirigent!“ Dieser Mann hat noch Pläne.

Der Buchfink zwitschert sich die Kehle aus dem Hals und wir erreichen einen Wegweiser mit dem Hinweis, dass es zum Turm auf dem Hausberg noch 2,6 Kilometer sind. Viele Orte und Städte in Deutschland haben Hausberge, der Hausberg von Freiburg zum Beispiel heißt Schauinsland. Aber, das finde ich sehr lustig, der Hausberg von Butzbach heißt: Hausberg, 485 Meter hoch. Warum kompliziert, wenn es auch einfach geht? Bei unserer Wanderung geht es jetzt aber spürbar bergan. Man merkt, dass Marc Sommer gut zu Fuß ist. Als Wanderer würde er sich eigentlich nicht bezeichnen, „ich spaziere gern und oft“. Als ich ihn darauf hinweise, dass der Deutsche Wanderverband generell Spaziergänge über eine Stunde Länge ganz offiziell als „Wanderung“ klassifiziert, strahlt der Chef von Hess Natur: „Nun gut, dann wandere ich doch sehr oft.“

Auf dem Weg hinauf zum Gipfel des Hausbergs kommen wir an einigen Infotafeln vorbei, die uns auf die zahlreichen Hohlwege, die teilweise parallel in den Berg hinauf führen, hinweisen. Diese Hohlwege werden nicht mehr als Wanderwege genutzt, weil sie brutal steil sind. Aber vor einigen hundert Jahren scheint der Weg über den Hausberg eine Hauptverkehrsachse im Großherzogtum Hessen auf dem Weg von Frankfurt nach Gießen gewesen zu sein. Immer weiter schrauben wir uns hinauf durch die hessischen Wälder, vorbei an keltischen Ringwällen, bis wir vor dem gigantischen Aussichtsturm des Hausbergs stehen. Das ist mal ein Turm, das muss ich zugeben, dessen Besteigung wirklich lohnt. Denn von dort oben hat man einen fantastischen Rundblick über den halben Taunus und Oberhessen. Und auch Butzbach mit der Firmenzentrale von Hess Natur liegt uns zu Füßen. Wenn es einen Taunussteig gäbe (warum gibt es den eigentlich noch nicht?), müsste dieser Taunussteig von Butzbach westwärts über den Hausberg, den Großen Feldberg und Idstein bis nach Lorch am Rhein verlaufen.  

Auf dem Weg hinunter vom Hausberg zum Forsthaus Butzbach erklärt Sommer, dass es in der Textilbranche unendlich viel schwieriger als in anderen Branchen sei, sozial fair und ökologisch sauber zu produzieren. Der Apfel an der Bio-Theke ist ungespritzt, fertig. Bei einem T-Shirt ist die Frage: Wo kommt die Baumwolle her, unter welchen Bedingungen wird sie gepflückt? Wer verarbeitet die Baumwolle wo unter welchen Arbeitsbedingungen weiter, wie wird die Wolle gefärbt und so weiter? Sind chemische Prozesse und ungesunde Färbemittel im Spiel? Gibt es bei den Produzenten unmenschliche Arbeitsbedingungen?

Daher hat Hess Natur auch lange die Finger von Outdoor-Kleidung gelassen. Die Vorgaben, die dort vom Kunden gefordert werden (Hundertprozentiger Nässeschutz, leichte Faser plus schnell trocknend), waren nicht ohne krebserregende Stoffe umsetzbar und mit der Naturformel von Hess Natur unvereinbar.

Langsam tastet man sich bei den Butzbachern aber in dieses Feld hinein. Im vergangenen Herbst bewies das sogenannte Wollexperiment – eine Studie der Uni Graz mit 20 Wanderern auf dem Rheinsteig –, dass es Wollunterwäsche in der Atmungsfähigkeit mit synthetischer Unterwäsche locker aufnehmen kann. Bei diesem Wollexperiment überraschte mich, dass Hess Natur eine regelrechte Anhängerschaft hat, Fans, die den Hersteller ihrer Kleidung lieben wie einen Fußballverein. Weit über 1.000 Hess-Natur-Begeisterte hatten sich für die Wanderung mit Produkttester-Charakter beworben, 20 wurden ausgewählt. Ich durfte an diesem Jahrhundert-Experiment auch teilnehmen und muss sagen: Ja, es stimmt, natürliche Wolle ist outdoor-kompatibel. Nur die Nässe nach dem ergiebigen Regen des ersten Wandertages hatte sich sehr nachhaltig in der Wollunterwäsche festgesetzt. Aber daran arbeiten die Butzbacher. Marc Sommer kündigt für den Herbst nichts weniger als eine Revolution an: Hess Natur möchte regendichte Jacken auf den Markt bringen, die ganz ohne synthetische Zusatzstoffe auskommen, reine Natur. Dafür haben monatelang die Entwicklungsingenieure in Butzbach in Regenkammern gesessen, bis sie die entsprechende Formel gefunden haben: Hess Natur macht dicht! Was zuerst wie eine schockierende Nachricht für die Fans der Butzbacher Firma klingt, entpuppt sich beim zweiten Hinsehen als Vorstoß auf den regengeschützten Markt der Outdoor-Kleidungs-Industrie.

Das Forsthaus Butzbach hat leider Ruhetag, daher nehmen wir nach unserer neun Kilometer langen Wanderung (das war eine RICHTIGE Wanderung!) ein herausragendes Mahl in der Bio-Kantine von Hess Natur. Die Mitarbeiter dieses Unternehmens leben nicht schlecht und seeehr gesund. Natürlich werfen wir auch noch einen Blick in das Geschäft neben der Unternehmenszentrale – mit angeschlossenem Kinderspielplatz und Grillstelle. Mist, hätte ich das gewusst, hätte ich Kinder und Würstchen mitgebracht. Und natürlich meine Frau, die als Hess-Natur-Fan wahrscheinlich den halben Laden leer gekauft hätte. Ich verabschiede mich von Marc Sommer, bedanke mich für die schöne Wanderung zu einem Gipfel des Taunus und bin gespannt auf den Herbst, wenn es heißt: „Hess Natur steigt in den Outdoormarkt ein.“


Gründung: 1976 durch Dorothea und Heinz Hess
Mitarbeiter 2013: 340
Umsatz 2012: ca. 70 Millionen Euro
Anteil Frauen in Führungspositionen: 53 Prozent
Zielmärkte: hessnatur erreicht Kunden im gesamten deutschsprachigen Raum per Katalogversand, stationären Handel und den eigenen Web-Shop.
Philosophie: Unsere Haltung, modischen Anspruch mit ökologischer und sozialer Verantwortung zu verbinden – das wird in Zukunft kein Gegensatz mehr sein, sondern ganz selbstverständlich.
Claim: hessnatur ist Mode für Lebensstil und Lebensfreude mit Verantwortung für Mensch und Natur.