Der Geograf Georg Pawlata hat eine neue Alpenüberquerung konzipiert: Sechs Etappen durch vier Länder – jenseits der bekannten Wege. Eine kleine Wandergruppe durfte die neue Route vom Kleinwalsertal ins Vinschgau schon vor der offiziellen Eröffnung kennenlernen und probewandern.
Von Stefanie Ball
Und plötzlich röhrt der Hirsch. Verborgen hinter einem Vorhang aus Nebel stößt er seine heiser klingenden Laute aus. Kurz zuvor hatte Paula vom Hirsch erzählt, wie sie ihn eines Abends oben auf dem Berg gesehen habe. Paula ist 27 Jahre alt, stammt aus Stuttgart und studiert Architektur in Linz. Gerade schreibt sie ihre Masterarbeit, und zwar hier oben auf der Oberen Gemstelhütte im Kleinwalsertal in knapp 1.700 Metern Höhe. Zwei Monate lang schmeißt sie den Laden. Die von ihrer Chefin Sabine selbstgebackenen Kuchen sowie die Tagessuppe kommen per Lastenaufzug jeden Tag zu ihr hinauf. Sind Platten, Töpfe und ihr Computerakku leer, schickt sie sie auf demselben Weg hinunter.

Strom gibt es nicht, eine kleine Solarzelle schafft es an regnerischen Tagen wie diesen, etwas Licht in die Hütte zu bringen. „Scheint die Sonne, kann ich mein Handy laden“, erzählt Paula. Weil auf die Sonne aber nicht immer Verlass ist, hat sie eine Handvoll Powerbanks mitgebracht. Wenn am späten Nachmittag die letzten Tagesgäste die Hütte verlassen, ist sie allein. Angst habe sie keine. „Ich hatte am Anfang Angst vor der Angst“, sagt sie. Aber die sei verflogen. Wie die Zeit, denn bald wird der Herbst und mit ihm der erste Schnee kommen, dann muss Paula zurück nach Linz.
Georg Pawlata und die Entstehung der neuen Alpenüberquerung
Der Hirsch röhrt also, und das klingt in dem Nebel und den Wolken um uns herum mystisch. Wir sind drei Tage lang mit Georg Pawlata unterwegs, der uns seine neue Alpenüberquerung zeigen will. Der Innsbrucker Geograf und Bergsteiger hat mehrere Jahre daran gebastelt, sich verschiedene Möglichkeiten überlegt und am Ende sechs Teilstücke zu einer Tour zusammengefügt.
Er nennt sie die „Alpenüberquerung Vier Länder“. Denn vier Länder werden an sechs Tagen durchquert. Los geht’s im zu Österreich gehörenden, aber nur von Deutschland aus erreichbaren Kleinwalsertal. Dann wird ein Stück durch Deutschland gewandert und an Grenzstein Nummer 147 dessen südlichster Punkt erreicht. Anschließend geht es wieder zurück nach Österreich, von dort weiter in die Schweiz und dann hinüber nach Südtirol in Italien.
Es ist die zweite Alpenüberquerung, die Georg Pawlata sich ausgedacht hat. Bei der ersten wird vom Tegernsee nach Sterzing gewandert, doch Teile der Strecke führen durch bekannte Gegenden mit zu vielen Menschen auf den Wegen, zumindest für einen wie Georg Pawlata, der die unberührte Natur liebt. Deshalb nun eine Route jenseits des "Overtourism".
Sehnsuchtsziel Alpenüberquerung

Genau genommen gibt es nicht die eine Alpenüberquerung. Als Klassiker gilt der E5, der Europäische Fernwanderweg von Oberstdorf nach Meran; die Tour ist lang und anspruchsvoll, eine gute körperliche Verfassung und Bergerfahrung sind Voraussetzung. Georg Pawlata, der nach Abschluss seines Studiums in der Tiroler Touristik arbeitete, wurde bald klar, dass eine Alpenüberquerung eine Art Sehnsuchtsziel der Deutschen ist. Der Italiener, sagt er, wandere nicht, und der Österreicher lebe in den Bergen, der wisse nicht, warum er sie überqueren solle. Die Deutschen aber hätten diese fixe Idee. Warum für diesen Wunsch nicht einen für Jedermann geeigneten Weg finden? So ist 2014 „Die Alpenüberquerung“, wie der offizielle Name lautet, entstanden. Wobei Georg Pawlata betont, dass auch der Jedermann ein Mindestmaß an Fitness und Wandererfahrung mitbringen müsse.
Die Wanderlust hat in den vergangenen Jahren, speziell in der Corona-Pandemie immer mehr Leute ergriffen, und so ist die alpine Idylle auf den bekannteren Touren und Gipfeln längst Geschichte. Die Influencer, die in Gumpen, vor Seen oder auf Klippen posieren, haben ihr Übriges zum Massentourismus beigetragen, so dass sich örtliche Behörden nicht anders zu helfen wissen, als Hotspots für Besucherinnen und Besucher zu sperren oder durch den öffentlichen Nahverkehr nicht mehr so einfach zugänglich zu machen.

Start der 5. Etappe © Klaus Kranebitter
Auch auf Teilen seiner ersten Alpenüberquerung hätten sich immer mehr Menschen getummelt, vor allem am Achensee und im Zillertal, erzählt Georg. Und so begab er sich zurück an den Schreibtisch, studierte erneut Karten und Google Maps, erkundete vor Ort Wege, Verbindungen, Hotels – und den öffentlichen Nahverkehr. Denn wie schon bei seiner ersten Alpenüberquerung, gibt es auch bei der nun neuen Vier-Länder-Variante Streckenabschnitte, die per Bus oder Bahn zurückgelegt werden. Mit Ausnahme der zweiten Etappe gelangt man bei allen anderen der insgesamt sechs Etappen mit öffentlichem Nahverkehr morgens zum Startpunkt beziehungsweise abends zum Hotel.
Damit sich niemand verläuft, ist auf den in den Alpen üblichen Wegweisern ein „Ü“ angebracht. Denn gelaufen wird in der Regel individuell, die Buchung der Alpenüberquerung als Wanderpauschale schließt die Übernachtung in Mittelklassehotels, Verpflegung, Gepäcktransport und eine Streckenbeschreibung ein. 14 Mal in der Saison, die für die Alpenüberquerung von Juni bis September reicht, werden geführte Touren angeboten.
Vom Kleinwalsertal nach Südtirol – Einblicke in die neue Alpenüberquerung
Als einzige Unbekannte bleibt das Wetter. Das zeigt sich bei unserer dreitägigen Testreise von seiner unvorteilhaften Seite. Schon am Morgen des ersten Tages, im Kleinwalsertal, stellt sich angesichts einer auf der Wetter-App bedrohlich lila gefärbten Regenfront die Frage, ob der Weg auf den Koblatpass in 2.054 Metern Höhe überhaupt möglich ist. Doch der Regen verschont uns, und so lernen wir Paula kennen, hören den Hirsch röhren, stehen am südlichsten Punkt Deutschlands, begegnen außer einer Wanderin niemandem und steigen recht steil und geröllig ab nach Warth. Von hier geht es per Linienbus nach Lech am Arlberg, dem Ziel der ersten Etappe. Der Ort ist bekannt für den Wintersport, doch auch jetzt, im Spätsommer, ist hier jede Menge los.

Nun springen wir etwas, nämlich von Lech direkt in die Schweiz. Die Etappen 2 bis 4 lassen wir auf unserer Probewanderung aus. Wir sehen nicht das Zugertal, das Georg Pawlata als schönstes Hochtal Österreichs bezeichnet, fahren nicht mit der Sonnenkopfseilbahn und genießen den Rundumblick vom Muttjöchle und steigen auch nicht aufs Schlappiner Joch, das die Grenze zur Schweiz markiert.
Wir steigen bei Etappe 5 und damit in Guarda im Unterengadin in der Schweiz wieder ein. Der historische Ort ist bekannt für seine traditionellen Steinhäuser, deren Fassaden mit kunstvollem Sgraffito versehen sind, ornamentalen und geometrischen Mustern, die mit Kratzeisen oder Nägeln in den farbigen Putz geritzt wurden. Dass der Ort mehr oder weniger jedem Schweizer und jeder Schweizerin ein Begriff ist, hat jedoch noch einen anderen Grund: Das Schellen-Ursli, eine berühmte Kinderbuchfigur, hat hier ihr Zuhause. Wir wandern oder vielmehr spazieren gemächlich über Wiesen und durch Wälder nach Ftan und lernen, dass die Zirben in dieser Gegend das Landschaftsbild selbst in höchster Höhe bestimmen. Der Gebirgsbaum wird nicht nur uralt, sondern erträgt auch Temperaturen von bis zu minus 40 Grad.
Jeden Tag eine neue Landschaft
Spätestens an diesem Tag wird klar, was den Reiz dieser Mehrtageswanderung ausmacht: Es sind nicht die alpinen Herausforderungen, sondern die unterschiedlichen Kulturlandschaften, die wir durchlaufen, täglich ändern sich die Landschaftsbilder, die Sprache, das Essen, die Architektur.

Nach einer Nacht in Scuol, in dessen Umgebung 20 Mineralquellen sprudeln, weshalb die Menschen seit Jahrzehnten hierher zum Kuren kommen, folgt die letzte Etappe. Startpunkt ist S-charl, eine ehemalige Bergarbeitersiedlung, in der schon im Mittelalter Blei und Silber verhüttet wurden. Erreichbar ist die Häuseransammlung nur im Sommer. Heute stehen 500 Höhenmeter auf dem Programm, doch die verteilen sich kaum merklich auf rund sieben Kilometer, so dass schon bald die Cruschetta erreicht ist, der auf knapp 2.300 Meter gelegene Übergang von der Schweiz nach Italien.
„Von hier kann man den Ortler sehen“, sagt Georg Pawlata. Eigentlich. Doch heute ist der Himmel wieder Wolken verhangen, es nieselt, und so sehen wir die mit 3.900 Metern höchste Erhebung Südtirols nicht. Dafür lockt die Aussicht auf einen italienischen Kaffee, der rund zwei Stunden später in einer kleinen Bar in Taufers im Münstertal vor uns steht. Der Endpunkt der Tour ist erreicht, die Alpen sind gemeistert, und wie es sich beim Wandern gehört, gibt’s für jeden eine Anstecknadel mit der Aufschrift: „Alpenüberquerer“.
Auf einen Blick: Alpenüberquerung Vier Länder
• Gesamtstrecke: 78 km
• Buchbar vom 19.6.2026 bis 21.9.2026
• Dauer: 8 Tage, 7 Nächte, 6 Wandertage
• Kosten „Komfortabel ohne Gepäck“ im Doppelzimmer pro Person 1.290,00 € p. P. im DZ mit Ü/F (HP 1.495,00 €). „Guided“ (mit Bergführer) 1.990,00 € p. P. im DZ mit HP. EZ-Zuschlag jeweils 390,00 €
• Detaillierte Etappenbeschreibung und Video unter www.die-alpenueberquerung.com
Weitere Eindrücke von den einzelnen Etappen gibt es auch in diesem Video: