Es ist ein eigenartiger Kontrast in diesen Tagen. Nun mehr auf der ganzen Welt kämpfen Ärzte um mein Leben, aufopferungsvoll und oftmals bis zur Erschöpfung. Ich werde Zeuge einer grauenvollen Pandemie, die über den Planeten walzt. In Asien, in Europa, in Amerika – überall. Doch dann gehe ich raus, alleine, in die Natur. Ich bewundere den Frühling, der sich aus der Deckung wagt. Ich bestaune die Zeit, die hier im Wald, im Feld, auf den Wiesen und den Gipfeln unaufhörlich, stetig und in beruhigender Gewissheit in die Zukunft schreitet. Ich erkenne es wieder, dieses Gefühl der Echtheit. Ich fühle sie wieder, die gestillte Sehnsucht in mir. Diese Ruhe, die all die Zahlen und Meldungen dieser Katastrophe Schritt für Schritt aus meinem Kopf verbannt. Die das Tempo und die Dramatik der sich überschlagenden Ereignisse aus meinem Leben tilgen. Ich laufe durch den Wald, zu meinem Lieblingsplatz und erkenne sie, diese Gedanken, die ich so oft schon hier hatte. Dieses wohlige Gefühl, in dem ich so gerne schwelge. 

"Ich fühle sie wieder, die gestillte Sehnsucht in mir. Diese Ruhe, die all die Zahlen und Meldungen dieser Katastrophe Schritt für Schritt aus meinem Kopf verbannt."

Jedes Mal, wenn ich mir die Schuhe schnüre und hinaus in die Natur wandere, entflamme ich diese einzigartige Verbindung, diese Einheit zwischen mir und der Natur. Ich streife ab, was plötzlich nicht mehr wichtig ist. Termine, Pflichten, Aufgaben. Ich dringe ein in einen zeitlosen Kosmos, in dem alles, vom kleinsten Grashalm bis zum mächtigsten Felsgipfel, das ist, was es ist. Bedingungslos. Ob ich als unbedeutender Mensch nun hier stehe oder nicht. Ich werde eins mit dem Rhythmus der Natur, wo Stress und Hektik sowie Angst und Sorge fremd sind. Ich ziehe die Bremse. Auf Zeit, bis ich wieder losrolle, bis ich rase und irgendwann vergesse, wie wundervoll der Stillstand war. Wie essentiell die Pause war, für meine Gesundheit und mein Wohlbefinden. Wie elementar für mein Sein. Ich als kleiner Teil dieser Gesellschaft rase in schwindelerregendem Tempo weiter, bis auf unbestimmte Zeit. Bis mich Krisen und Katastrophen wie diese wieder jäh zum Stillstand zwingen. Und doch gebe ich die Bremse jedes Mal aufs Neue aus der Hand, lege sie in die Hände unvorhersehbarer Ereignisse, die mich mit ihrem Eintreffen in aller Wucht überrollen. Die Angst auslösen und Panik verbreiten und dabei vor allem eines tun: Die Chancen des Stillstands zu vernebeln.


Es ist eine Schande, bei all den Werkzeugen, über die ich als Mensch verfüge. Werkzeuge, mit denen ich das Leben formen und nach meinen Wünschen modellieren kann. Doch ich sage mir: Dieses Mal nicht. Ich werde diesen Stillstand nutzen, trotz aller Entbehrungen, Tragödien und kritischen Entwicklungen, die diese Krise mit sich bringt. Diese Chance ergreifen, jetzt. Ich möchte versuchen, Neues zu erschaffen, wo Altes rostet. Versuchen, zu verbessern, was im Argen liegt und Hässliches zu neuer Schönheit zu verhelfen. Ich möchte mein Leben für die Zukunft entschleunigen und es endgültig seiner plagenden Altlasten entledigen. Ich möchte diesen gleichermaßen erzwungenen wie dramatischen Nothalt nutzen, um das Bremspedal wieder zu finden; und wieder neu erlernen, es zu betätigen. Um mich, meinen Geist, meine Gedanken und mein Sein wieder selbstbestimmt zum Stillstand bewegen zu können. Wann immer die Welt um mich herum angesichts der absurden Geschwindigkeit zu verschwimmen droht. Um nie wieder durch das Hier und Jetzt zu taumeln, in dem ich mich und meine Bedürfnisse aus den Augen verliere.

"Die Chance, stärker als je zuvor aus ihr empor zu wachsen – als Individuum, als Kollektiv, als Gesellschaft. Als Gemeinschaft. Jetzt, wo ich stillstehe. Weil ich stillstehen muss. Jetzt, wo ich durchatme. Weil ich durchatmen muss."


Bei all den furchtbaren Verlusten und den tragischen Schicksalen der Coronakrise – auch dieser Stillstand, diese Krise – diese Katastrophe – birgt eine Chance. Die Chance, stärker als je zuvor aus ihr empor zu wachsen – als Individuum, als Kollektiv, als Gesellschaft. Als Gemeinschaft. Jetzt, wo ich stillstehe. Weil ich stillstehen muss. Jetzt, wo ich durchatme. Weil ich durchatmen muss. Also packe ich es an. Ich widme mich meinem Kind, das ich im Sog des beruflichen Alltags viel zu oft vernachlässigt habe. Ich schreibe meinen Freunden, teile ihnen mit, was ich so sehr an ihnen schätze. Ich wende mich meiner Familie zu, um reinen und offenen Herzens zurechtzurücken, was so lange schon schiefsteht. Ich schenke ein Lächeln mehr als sonst, gebe Zuversicht und Hoffnung. Ich höre zu. Öfter, bewusster. Ich bin da, für mich, für andere. Auch wenn all das in diesen Tagen vielleicht nur aus der Ferne geht. Ich wage weniger Gesellschaft und mehr Gemeinschaft. Ich bin kreativ, gestalte, erschaffe. Ich sinniere, schweife ab. Ich tue all das, was ich zuvor in abstrakten Farben und Formen lediglich zu träumen wagte. Ich entsage dem Überfluss, dem kopflosen Konsum, dem Status. Ich löse mich von Meinungen anderer, unterdrücke das tadelnde Echo der Gesellschaft. Ich plane das Leben und skizziere eine Zukunft, die mich glücklich macht. Jetzt, in aller Ruhe, im Stillstand dieser Katastrophe. Mit Muße. Und Zeit.

Mit der Zeit, die ich bald schon nicht mehr haben werde, wenn ich diese Chance nicht zu nutzen weiß. Um nicht erneut planlos hinterher zu hecheln, den Idealen anderer und den monströsen Fußstapfen einer irgendwie verrückt gewordenen Welt. Nein, ich puste durch, bewusst. Und bewundere den Zauber des Alleinseins. Um in Zukunft mit mehr Bedacht durch das Leben zu gehen. Gemächlich, langsam und in der Ruhe, die mir guttut. Hier, im sanften Rauschen des Windes, mutterseelenalleine sitzend an meinem Lieblingsplatz und entschlossen in die Ferne schauend, umarme ich meine Natur. Ich lausche dem Frühling, der in den verschiedensten Tönen von den Baumwipfeln zwitschert, der sich in all seiner wundervollen Farbenpracht aus dem Boden reckt. Ich hole Luft, beginne neu – so wie es die Natur vor meinen Augen tut. Ich ordne, über was ich so lange schon im Chaos stolpere. Sortiere aus, was mich stresst. Verbanne, was mich krank macht. Wenn nicht jetzt, wann dann? 

"All die Menschen und Berufe, die in der Spirale unseres Alltags sonst nur wenig Wertschätzung erfahren, werden mit einem Schlag elementar zur Aufrechterhaltung unseres Landes."

Ich ergreife die Chance dieses Stillstands. Für all die Menschen, die wacker weiterkämpfen, ganz vorne an der Front dieser Pandemie. Die Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, die Kassiererinnen und Kassierer, die LKW-Fahrerinnen und -Fahrer, die Polizistinnen und Polizisten, die Post- und Paketbotinnen und -boten, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter öffentlicher Einrichtungen, der Entsorgungsbetriebe, der Strom- und Trinkwasserversorgung und all die anderen Menschen da draußen, die unsere Daseinsvorsorge sowie öffentliche Infrastruktur sicherstellen. All die Menschen und Berufe, die in der Spirale unseres Alltags sonst nur wenig Wertschätzung erfahren, werden mit einem Schlag elementar zur Aufrechterhaltung unseres Landes. Auch für sie ergreife ich die Chance. Um all diese Menschen dann, wenn dieser Spuk vorüber ist, mitzunehmen in eine Welt, ein Leben, eine Gesellschaft, die besser ist als je zuvor. 


Ich, der Vater. Ich, die Mutter. Ich, der Bruder, die Schwester. Die Oma, der Opa. Die Tochter, der Sohn. Ich, von den Selbstständigen, den Freiberuflern, den Angestellten. Ich, von den Bankern, den Bettlern. Den Rechten, den Linken, den Nazis. Den Hooligans, den Drogendealern, den Schlägern. Ich, der Schwule, die Lesbe. Ich, von den Heteros. Den Reichen, den Armen, den Bedürftigen. Von den Christen, Juden, Muslimen, Buddhisten. Ich, von den Großen und den Kleinen. Den Behinderten, den Gesunden, den Kranken. Den Nachdenklichen, den Forschen, den Unbedarften. Den Kriminellen, den Unbefleckten, den Süchtigen. Den Glücklichen, den Traurigen. Ich, von den Bürgern, den Politikern. Den Promis, den Stars, den Sportlern. Den Strippenziehern, den Mitläufern. Den Ängstlichen, den Tapferen. Den Braven, den Fleißigen, den Faulen. Ich, das Schaf und Ich, der Wolf. Ich, aus Europa, aus Afrika. Aus Amerika, aus Asien. Ich, der Mensch.

Autor Jarle Sänger vor Gipfelkreuz