Text & Bilder von Janna Kamphof 

Wandern auf der Wiesengänger-Route für mehr Resilienz 

„Wenn ich in der Natur unterwegs bin, finde ich Lösungen“, sagt Claudia Maier. Sie ist Wanderleiterin und Naturresilienztrainerin. Zusammen mit ihr und einer kleinen Gruppe bin ich heute auf der Wiesengänger-Route von Kaufbeuren zur Bergmang Alpe unterwegs. Es ist eine der drei Routen der Wandertrilogie Allgäu, ein Trio von Wanderwegen in den verschiedenen Höhenlagen des Allgäus. Die Wiesengänger-Route geht durch das sanft hügelige Voralpenland.

Vor dieser schönen Landschaftskulisse machen wir Achtsamkeitsübungen. Was das beinhaltet, will Claudia gerade erzählen, als ich an einem verrotteten Baumstamm weiße Blümchen und Pilze entdecke. Ich hocke mich hin, um das Naturkunstwerk näher zu betrachten und entschuldige mich für die Unterbrechung. „Kein Problem“, sagt Claudia. "Achtsamkeit bedeutet auch, Details zu entdecken, weil man die Augen für die Schönheit in kleinen Dingen offen hält. Wie du es gerade gemacht hast.“ Achtsamkeit sei somit ein Werkzeug für mehr Resilienz. „Resilienz heißt, sich in herausfordernden Situationen wieder seine Kräfte zurückholen können“, erklärt Claudia. Das geht zum Beispiel durch Akzeptanz, kreative Lösungskompetenz oder eben Achtsamkeit.

Mehr Infos zur Wiesengänger-Route und Wandertriologie Allgäu

Mit geschärften Sinnen durch Wald und Wiesen

Wiesenaussicht auf der Etappe von Kaufbeuren zur Bermang Alpe

An einer kleinen Kapelle in Kaufbeuren lädt Claudia zur ersten Übung ein: Wir werden unsere Sinne schärfen. Mit geschlossenen Augen stehen wir auf der Wiese. Claudia stellt uns Fragen: was wir hören, was wir riechen, ob wir die Sonne und den Wind spüren. Wir drehen unsere Nasen in verschiedene Himmelsrichtungen und wiederholen dann den Kreis mit offenen Augen. Wir teilen unsere Beobachtungen, lassen sie aber ohne Werturteil wieder los und wandern dann weiter durch Wald und Wiesen. Die frischgrünen Fichtenspitzen wirken leuchtend, auf den Wiesen duftet es nach nassem Gras und Frühlingsblumen. Gelegentlich erkennen wir in den weißen Wolkenmassen in der Ferne die Alpen.

Waldbaden und die Kraft der Bäume spüren

An einer Lichtung mit einem kleinen See halten wir an. Wir suchen uns alle ein Plätzchen für die Waldmeditation aus. Das weiche Moos federt, als ich mich in die Nähe des Wasserrandes setze. Wir nehmen bewusst wahr, wie unser Körper den Boden berührt und wie sich Erfahrungen und Gedanken ankündigen und verschwinden. Danach gehen wir in gemächlichem Tempo auf die Suche nach einem Baum, der uns anspricht. ‚Ob wir jetzt wohl Bäume umarmen werden?‘, denke ich mit einem Lächeln im Gesicht. Die Antwort lautet: Ja, aber nur wenn man möchte. Es geht darum, den Baum auf sich wirken zu lassen, ihn so wahrzunehmen wie er ist und seine Kraft zu spüren. Das geht mit einer Umarmung, aber auch nur mit dem Rücken gegen dem Baum sitzend oder beim Zugucken.

Was wir hier machen, ist Waldbaden: eine meditative Art des Gehens, die sich als gutes Mittel zum Stressabbau und zur Verbesserung der Gesundheit erwiesen hat. In Japan, wo es seinen Ursprung als Shirin Yoku hat, ist es sogar Teil des nationalen Gesundheitsprogramms. Der Wald kann sich positiv auf uns auswirken: von den Geräuschen der Natur, die einen Teil unseres Nervensystems aktivieren, sodass wir uns beruhigen, bis hin zu organischen Substanzen, die Bäume ausscheiden und die sich positiv auf unser Immunsystem auswirken. Die Entschleinigung und bewusste Wahrnehmung der Umgebung tut ganz gut. Nach der halbstündigen Übung fühle ich mich wie nach einem Mittagsschlaf, aber mit einem frischen Kopf. Den Anderen geht es ähnlich und auf den letzten Kilometern zur Bergmang Alpe sind die Gespräche leiser, dafür aber tiefer.

Achtsamkeit aus der Natur in den Alltag mitnehmen

Wirken lassen, nachdenken, verarbeiten: Resilienz-Übung auf der Wiesengänger-Route im Allgäu

Am nächsten Morgen fahren wir in das württembergische Allgäu. Die Landschaft wird noch sanfter, die Orte seltener, aber der Blick auf die Alpen bleibt. Inmitten des quirligen Treibens der Stadt Leutkirch lädt Claudia Meier dazu ein, nach Schönheit zu suchen. Das fällt hier nicht schwer. Alte Häuser, bei denen Ziegel und Holzbalken durch die verputzte Fassade schauen, ein üppig blühender Obstbaum, goldene Details in einem gusseisernen Zaun... Hier ist die Übung eine ‚light‘ Variation von etwas, das man im Alltag machen kann. „Manchmal ist die Lampe auf dem Schreibtisch das einzig Schöne, was man entdeckt“, sagt Claudia, „Es geht darum, seine Gedanken und damit seine Gefühle lenken zu lernen.“

Wir wandern auf dem Trilogierundgang von Leutkirch. An der Thingsstätte, einer Art Freilichttheater, die in der Zeit des Nationalsozialismus für Veranstaltungen genutzt wurde, erzählt Claudia über die Kraft der Bäume. Alte Eichen bilden die Kulisse. „Dieser Baum wurde von den Nazis als Symbol missbraucht. Die Eiche ist aber ein Mutterbaum, der alles beschützt, was unter ihm lebt, und gleichzeitig genug Licht hereinlässt. Feinstofflich kann die Eiche uns Kraft geben, wenn wir durchhalten müssen“, erläutert Claudia. Und so hat jeder Baum seine eigene Kraft. „Geh durch den Wald und wenn dich ein Baum anspricht, gibt er dir das, was du in diesem Moment brauchst“, gibt Claudia uns zum Schluss mit. Auf einer Wiese machen wir eine letzte Resilienzübung. Jeder beantwortet für sich schriftlich fünf Fragen, wie „Was kannst du jetzt tun, um deine Kraftreserven um 5-10% aufzufüllen?“. Es ist eine schöne Übung, all die Erfahrungen der letzten Tage noch einmal zu sortieren und daraus konkrete Ideen für die kommende Zeit mitzunehmen. Es ist schön zu merken, wie manche vage Idee auf dem Papier plötzlich greifbar wird. 

Abschluss im Kraftort Wurzacher Ried

Unterwegs im Hochmoorgebiet Wurzacher Ried (links)
Achtsamkeit: Details in der Natur entdecken (rechts)

Energiegeladen machen wir noch einen letzten Spaziergang an einem Kraftort im Allgäu. Das Wurzacher Ried ist das größte intakte Hochmoorgebiet in Mitteleuropa. Bis in die 1990er Jahre wurde hier Torf als Brennstoff gestochen, heute ist es ein geschütztes Naturschutzgebiet. Denn wenn Moore die richtige Feuchtigkeit haben, speichern sie mit nur 3% der Erdoberfläche doppelt so viel CO2 wie alle Wälder der Welt. Außerdem ist es eine Quelle außergewöhnlichen Lebens. „In diesem sauren, nassen, nährstoffarmen Gebiet finden nur wahre Überlebenskünstler eine Heimat“, erklärt uns Dr. Siegfried Roth vom Naturparkzentrum, „darunter zum Beispiel das Wollgras, das jetzt so schön blüht." Ein Ort, an dem das Leben eher ums Überleben geht und die Schönheit in den kleinsten Details liegt, ist der perfekte Abschluss des achtsamen Wanderwochenendes im Allgäu.

Mehr Infos zu Wanderwegen durch das Moor: www.bad-wurzach.de