Beim Blättern durch die Hefte der Jahre von 1985 bis 1989 wird mir bewusst: Das Gesicht des Wanderns, das Profil der Wanderungen und das Standing des Wanderns in der Gesellschaft haben sich dramatisch verändert. Ein verwunderter Rückblick.
von Michael Sänger
Gründer und Herausgeber des Wandermagazins
Rote Kniestrümpfe, derbe Kniebundhose, wahlweise rot-weiß oder blau-weiß kleinkariertes Wanderhemd und, vorzugsweise bei den Männern, ein Tirolerhut. In der rechten Hand ein Holzstock mit lasiertem, handschmeichelndem Holzknauf, der idealerweise von unten bis oben mit Stocknägeln beschlagen war. Zeichen besonders rühriger Wandertätigkeit. Man wanderte gerne im Pulk mit Gleichgesinnten und „Gleichbekleideten“. Ich selbst betrachtete damals meinen schweren Anorak, die weite Jeans, die Baumwollunterwäsche, das „alle Tage-Hemd“ als sinnvolle Wanderbekleidung. Lediglich die derben Meindl-Wanderschuhe, Vollleder und knöchelhoch, waren nach heutigem Verständnis professionell. Als Rucksack trug ich einen Militärrucksack: ein zylinderförmiger Leinensack, ohne Polster an Rücken oder Trägern, in den sich alles ungeordnet hineinstopfen ließ. Und heute? Bunt und textil die Schuhe, elastische Wanderleggings, stromlinienförmige, wasserabweisende Rucksäcke mit Regenschutz im Bodenfach. Alles mit breitem gepolsterten Hüftgurt in modischen Farben, ultraleicht mit einem stark steigenden Hang zur Nachhaltigkeit bezüglich der verwendeten Materialien. Wow!
Wie wurde gewandert?
Das Alltagswandern war in diesen Jahren überwiegend eine Vereinsaktivität. Die Mitglieder des Deutschen Volkssportverbandes (DVV) als Teil des Internationalen Volkssportverbandes (IVV) organisierten gebührenpflichtige, temporär eingerichtete Wanderstrecken in verschiedenen Längen. Wer teilnahm und „finishte“ erhielt eine Teilnahmeurkunde und Plakette, je nach Strecke in Bronze, Silber oder Gold. Heute veranstaltet der IVV weltweit „Wanderspiele“ wie IVV-Olympiaden, IVV-Europiaden, IVV-Asiapiaden und IVV-Amerikaspiaden. Heute erobern Geschäftsmodelle wie „Megamarsch“, „die 50“ oder die „Nijmeegse Vierdaagse“ die Herzen vorwiegend jüngerer Wanderfans.
Regionaler, weniger wettbewerbsorientiert und dafür kulturell aufgeladen gestalteten sich die Wanderangebote und -aktivitäten der damals 48 Mitgliedsvereine des Deutschen Gebirgs- und Wanderverbandes, darunter Eifelverein, Schwarzwaldverein oder Spessartclub. Überdies oblag diesen Vereinen größtenteils auch die Markierungshoheit für die Wanderwege in ihren Regionen, zugleich aber auch die Verpflichtung zur Pflege, Wartung und dem Erhalt aller Orientierungshilfen. Während sich die IVV-Wandernden des vorhandenen Wegenetzes einfach bedienten und auch die gesamte touristische Vermarktung der Wanderwege in diesen Tagen, weitgehend absprachefrei, das von ehrenamtlich Tätigen betreute Wegenetz aus Orts-, Bezirks-, Regions- und Weitwanderwegen nutzte, lieferten letztlich die Zweigvereine des DWV die Voraussetzungen für gefahrloses Wandervergnügen.
Was war los in Deutschland, in der Welt?
Als ich das Wandermagazin startete, hatte gerade Bundespräsident Professor Karl Carstens, der „Wanderpräsident“, seine Amtszeit mit der 45. Etappe seiner Deutschlandwanderung von Hohenwacht an der Ostsee nach Garmisch-Partenkirchen abgeschlossen. Zudem hatte er neun Bundesländer in 16 ein- bis zweitägigen Wanderungen durchstreift. Die nationale Begeisterung, die sich allenthalben in Tausenden Mitwandernden zeigte, erzeugte die Sicherheit in mir: Jetzt oder nie!
Die Welt schien im Aufbruch. Michail Gorbatschow öffnete die Sowjetunion mit dem Schlüsselbegriff „Perestroika“. Boris Becker gewann Wimbledon. Waren das nicht Hoffnungszeichen? Auf der anderen Seite die Umweltgefahren, Saurer Regen, Dünnsäureverklappung in der Nordsee und die Explosion eines Reaktors des Kernkraftwerks in Tschernobyl. Das Wandermagazin, so mein Ziel, sollte mit dem Medium Wandern zur individuellen wie kollektiven Balance für Mensch und Natur beitragen. Nur wer sich der Schönheiten per pedes nähert, selbst die aromenreiche Waldluft einsaugt, den Blick von Gipfeln und Höhen aufmerksam schweifen lässt, versteht wirklich: Dies ist unsere Natur, unsere Welt und ich bin Teil dieser Natur, dieser Welt. Es liegt auch an mir, dass es so bleibt.
Ronald Reagan rief bei seiner Rede am Brandenburger Tor: „Mr. Gorbatschow, open this gate!“ Die Antwort kam prompt mit Glasnost. Ach ja, da waren noch die Barschelaffäre, das legendäre Bruce Springsteen-Konzert in der DDR, der Rückzug der Russen aus Afghanistan, die massenhafte Ausreisewelle von DDR-Bürgern und dann als Krönung deutsch-deutscher Geschichte der Fall der Mauer. Welche Dynamik! Gerade erst hatte der 89. Deutsche Wandertag (Motto: Umwelt – Gesundheit – Freizeit) im noch geteilten Berlin stattgefunden. Mit dabei: das Team des Wandermagazins – zu Füßen der Berliner Gedächtniskirche. Und dann wenige Wochen später, am 9. November: der Fall der Mauer. Peng!
Neu gedacht und neugierig geworden
Wie wanderte man eigentlich zu DDRZeiten? Wie kommen wir in Kontakt mit den touristischen Regionen wie Erzgebirge, Vogtland, Sächsische Schweiz oder Thüringer Wald? Ich zog für die Beantwortung der ersten Frage ein Büchlein mit dem Titel „Wandern“ hervor, das ich 1981 bei einem DDR-Besuch bei der Verwandtschaft meiner Frau in einer Magdeburger Buchhandlung erworben hatte. Gleich auf Seite 8 im Kapitel „Wandern – wer und warum?“ stieß ich auf dieses für den Autor Bernhard Fisch wegweisende Zitat aus den Federn des steirischen Schriftstellers Peter Rosegger: „Alles, was ich in meinem Leben durchfuhr, habe ich nur flüchtig in der Erinnerung; alles, wohin mich meine Füße trugen, habe ich fest in meinem Herzen bewahrt!“ Und wenige Zeilen später schreibt der Autor: „Alle (Wandernden) verbindet, dass sie auf den Wanderungen etwas finden, was ihr Leben schöner und reicher macht.“ War das nicht auch mein Credo? Wundervoll, dachte ich, und setzte in den Wochen nach dem Mauerfall alles daran, Kontakte mit „drüben“ zu knüpfen und meine erste Erkundungsreise zu organisieren. Aufbruch zu den 90ern!
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