Was für ein bewegtes und bewegendes Jahrzehnt! Die Auflösung der Sowjetunion. Die Wiedervereinigung. Das Klonschaf Dolly, die Eröffnung des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft. Die Wiedereröffnung der Brockenbahn im Harz im Herbst 1991. 1995 verhüllte Christo den Berliner Reichstag. Die Jahrhundertflut entlang der Oder im Sommer 1997. Am 3.6.1998 entgleiste ein vollbesetzter ICE bei Eschede. Das Ende der Apartheid in Südafrika und die Befreiung Nelson Mandelas aus jahrzehntelanger Haft. Derweil rollten durch Deutschland Castor-Transporte. In Lüchow-Dannenberg und dem idyllischen Wendland protestierten Atomkraftgegner. Und das sind nur einige „Höhepunkte“ aus meiner Erinnerung.

von Michael Sänger
Gründer und Herausgeber des Wandermagazins

Die 90er des Wanderns

Keine Frage, nach der Öffnung der Mauer im November 1989, der Einführung der D-Mark und der „Wiedervereinigung“ im Juli bzw. Oktober 1991, schwappte eine gewaltige Reise- und Wanderwelle nach drüben. Wie sah es aus an der mecklenburgisch-vorpommerschen Ostseeküste? Endlich leibhaftig Wandern in Zittauer- und Erzgebirge, der Rennsteig in seiner ganzen musealen Ausdehnung – das Wandern in den neuen Bundesländern boomte. Die Neugierde auf Altmark, Oderbruch, den Ostharz, den Thüringer Wald, auf Kyffhäuser, Fläming, Dübener Heide, die Saale-Unstrut-Region, auf Havelland oder Spreeregion kannte keine Grenzen.

Verkehrte Welt?

Es herrschte Aufbruchstimmung in den Tourismuszentralen der ostdeutschen Regionen. Ich jagte von Termin zu Termin von Annaberg-Buchholz nach Klingenthal, von Bad Salzungen nach Erfurt, selbst überwältigt von der Schönheit mir bis dahin nur von Bildbänden bekannten Landschaften. Die Drei Gleichen vor den Toren von Gotha, die Oberlausitz mit den grandiosen Städten wie Görlitz, Bautzen, Zittau oder Kamenz. Die Mecklenburgische Seenlandschaft, der Hohe Fläming, das Vogtland, das Thüringische Schiefergebirge oder der legendäre Kammweg über das Erzgebirge. Welche Freude im Westen.

Wie anders sah es dagegen bei den bevorzugten Reise- und Wanderzielen der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR aus! Sie lagen überwiegend außerhalb der westdeutschen Lande. Verkehrte Welt? Nein, gab es doch angesichts jahrzehntelanger Reisebeschränkungen jenseits der sozialistischen Bruderstaaten großen Nachholbedarf. Österreich, Italien, Spanien, Griechenland oder Übersee statt Ungarn, Krim, Tschechoslowakei oder Jugoslawien.

Da dämmert was ...

Es waren die 90er, in denen eine Morgendämmerung neuen Wanderns anbrach. Sie entwickelte sich in Hessen, genauer in der Burgwaldregion nördlich der Universitätsstadt Marburg. Ausgerechnet ein Naturwissenschaftler, ein promovierter Physiker mit Lehrauftrag an der Uni Marburg, erkannte und entwickelte seine eigenen naturromantischen Neigungen zum Ausgleich der universitären Belastungen. Im Auftrag der Volkshochschule Marburg Stadt boten Dr. Rainer Brämer und seine Ehefrau Christa, eine studierte Pädagogin in hessischen Lehramtsdiensten, kleine Wanderungen in der näheren Umgebung an. Den didaktischen Auftrag, möglichst vielen Menschen heimische Landschaften auf softe, aber erlebnisreiche Art zu vermitteln, erfüllten sie mit großem Eifer.

Einerseits wuchs die Nachfrage nach neuen, wanderbaren Zielen von Jahr zu Jahr auf immer neue Rekordhöhen und andererseits steigerte sich die Resonanz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Brämersche Wegeführung und Themenbegleitung explosionsartig. Das veranlasste den Naturwissenschaftler und kommenden Natursoziologen dazu, mal darüber nachzudenken, was beim Wandern zu diesen offensichtlich hochgradig befriedigenden Erlebnissen führt. Für den angehenden Wanderpapst und Wandervereinsmitglied begann eine konfliktreiche Odyssee durch die organisierte Wanderwelt. Mit seinen Forderungen nach einem Wanderführerschein für Lehrerinnen und Lehrer (1995), seiner Beweisführung „Wandern ist Naturschutz“ (1996) oder seinem Weckruf „Wandern neu entdeckt“ (1996) erntete er zunächst in den hessischen Wandervereinen neben erhöhter Aufmerksamkeit vor allem viel Kritik. Das schien ihn aber erst recht zu beflügeln. Rasch beschäftigte er sich mit der Ästhetik von Wegen und Landschaften, beschrieb die Chance des Wanderns als neue Jugend-Bewegung und bekräftigte mit wissenschaftlicher Beweisführung „Wandern ist ein sanfter Natursport“. Es war die sprichwörtliche Morgendämmerung vor einem neuen Wanderimage.

Das Einmaleins einer schönen Wanderung

Was genau macht eine Wanderung so unvergessen, so erfüllend und erlebnisreich? Wann ermüdet eine Wanderung neben der Physis gerade auch die Psyche und vermag selbst die Seele nicht zu erheitern? Ich sprach mit Dr. Rainer Brämer im Januar 2024 und er erinnerte sich: „Die Kunst einer guten Wanderung besteht in der Dramaturgie der Wegeführung, der angepassten und abwechslungsreichen Wahl der Wege selbst und einer Fokussierung auf Erlebniselemente, die dem Wanderer das Entdecken von Landschaft erleichtern helfen.“ Was für ein Weckruf! Frust und Lust beim Wandern erstmals in eine objektive Beziehung zueinander zu stellen, was Wegeführung, Wegeformat und zivilisatorische Begleitumstände betraf. Mit dieser Erkenntnis stieß der Physiker aus dem kleinen Lohra nichts weniger als eine Revolution der gesamten Wanderbranche an. 

Die 90er und das Wandermagazin

Die 90er waren für das Wandermagazin inhaltlich wie wirtschaftlich einschneidend. Ab 1989 hatte ich mich mehr und mehr auf die redaktionelle Entwicklung des Wandermagazins fokussiert. Der Status als Offizielles Organ des Verbandes der Deutschen Gebirgs- und Wandervereine brachte uns nicht die erhofften Zuwachszahlen bei den Abonnements. Die Mehrzahl der Vereinsmitglieder war mit dem Bezug der regionalen Vereinszeitschriften als Bestandteil des Mitgliedschaftsbeitrages vollauf zufrieden und überdies an einer überregionalen Wanderberichterstattung wenig interessiert. Zudem war mit unserer kleinteiligen Anzeigenakquise in der Summe kein nennenswerter Erlösausgleich zu erreichen. Daher galt es die Kosten massiv zu reduzieren. Die Konsequenz bestand darin, dass ich selbst vermehrt, und im Verlaufe der 90er Jahre, nahezu ausschließlich alle Reportagen durchführte. Ergänzt wurden die redaktionellen Inhalte durch den gezielten Einkauf von Fremdbeiträgen. Damit konnten Personalkosten eingespart und gleichzeitig die Attraktivität der Inhalte gesteigert werden. Ab 1996 gewann ich erstmals Investoren für das Wandermagazin. Hierzu wurde 1996 die WWP GmbH mit Sitz in Niederkassel bei Bonn gegründet. Einer der Gesellschafter, Ralph Wuttke, ist dem Wandermagazin bis heute, inzwischen als Geschäftsführer, treu geblieben. Redaktion, Vertrieb und Anzeigenabteilung fanden in den Räumen dieses Gesellschafters Unterschlupf, der dann 1998 von Niederkassel Rheidt nach Niederkassel Mondorf umzog.

Wandersozialisation als Vaterpflicht

Als Vater von drei heranwachsenden Kindern hatte ich zudem auch die Wandersozialisation entscheidend zu realisieren. Anfangs führten meine Frau und ich gemeinsam zwei- bis dreitägige Wanderungen in der Eifel oder der Pfalz durch. Dabei bestand die Maxime aus zwei wichtigen Regeln: Richtung und Streckenlänge entscheiden die Kinder nach Kondition und Wanderlaune sowie Ort und Zeit für Spiele und Pausen. Nachmittags berieten wir dann nach Studium der Wanderkarte, welches Ziel für die Übernachtung erreichbar war und ich organisierte dann per Telefon den Gastgeberbetrieb. Aus der heutigen Rückschau betrachtet war das ein Erfolgskonzept.

Es kamen die gemeinsamen Reportagenurlaube hinzu. Ob die Hohe Tatra, das Allgäu, die Steiermark, Norwegen, die italienischen Abruzzen, die Pyrenäen, die Auvergne oder Österreich – die Kinder waren oft dabei und bildeten passende Hingucker für die benötigten Fotos. Ob Almhüttenreportage unter dem Brünnstein auf der Himmelmoosalpe, Skiwandern im norwegischen Rondane-Nationalpark, Zelturlaub in Frankreich oder Besteigung des Krivan in der Hohen Tatra auf slowakischer Seite – stets wanderten unsere drei Orgelpfeifen und meine Frau mit. So manche Bilder in den verschiedenen Ausgaben der 90er zeigen meine Familie in Aktion. Dass mit diesem Erlebnishintergrund ausnahmslos alle Kinder bis heute dem Erlebniswandern treu geblieben sind und ihrerseits den sechsfachen Nachwuchs für das Wandern zu begeistern versuchen, versteht sich von selbst.

Rainer Brämer mein Augenöffner

Und noch etwas beeinflusste die redaktionellen Geschicke des Wandermagazins in diesem Jahrzehnt: der Wanderpapst aus Hessen, Dr. Rainer Brämer. Anfang 1995 startete ich mit dem noch weithin unbekannten Natursoziologen eine mehrteilige Serie im Wandermagazin mit dem provokanten Titel: Wandern neu entdeckt. Mal analysierte Brämer den Wandel des Wanderns zum modernen Freizeitsport. Wandern sei in, und zwar zahlenmäßig deutlich jenseits der Wandervereine, erläuterte er in Heft 2/1995. In der Ausgabe 3/1995 ging Brämer mit validen Fakten auf die positiven Auswirkungen des Wanderns beim Kalorienverbrauch und der positiven Energiebilanz des soften Wanderns ein. Im 4. Heft des gleichen Jahrgangs erläuterte er, weshalb das Wandern „Labsal für die Seele“ sei.

Ich war wie elektrisiert und mir wurde auf Anhieb klar, weshalb so viele „unvorbereitete“ Wanderungen zum gefühlten Erlebnisfiasko werden mussten. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen, dass es eindeutige Frustfaktoren (Lärm, Asphalt, Straßennähe, monotone Wege etc.) und herausragende Lustfaktoren (Aussichten, sich schlängelnde Pfade, Formationswechsel, ereignisreiche Schlüsselstellen einer Landschaft) gab, die bei der Planung zu beachten sind. So mancher Traditionsweg, sei es Bezirks-, Regions- oder Fernwanderweg, entpuppte sich bei genauerer Betrachtung als Frustbringer. Kein Wunder, anfangs waren die Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. entstandenen Wege ja noch überwiegend naturbelassen. Die zunehmende Industrialisierung, der Flächenfraß für neue Straßen, der Ausbau von Wohnund Gewerbegebieten etc. vereinnahmte auch vorhandene Wandertrassen. Die als „Grüner Plan“ bezeichnete Flurbereinigung für Landwirtschaft und Forst taten durch Asphaltierung, Verbreiterung und Begradigung vorhandener Wege ein Übriges. Zum Booster des neuen Wanderns wurde der erste Deutsche Wanderkongress im Herbst 1998 in Bad Endbach. Mir wurde klar: nichts weniger als eine Revolution des Wege- und Wanderverständnisse musste her. Doch davon mehr in der nächsten Ausgabe.

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