Als Kind konnte ich in der Nacht vor dem Aufbruch in den Sommerurlaub oft lange nicht einschlafen. Aber es war kein unangenehmes Gefühl, ich habe mich nicht unruhig von einer Seite auf die andere gewälzt, sondern hatte einfach das Bedürfnis, möglichst lange wach vor mich hin zu träumen und mir vorzustellen, was in den nächsten Wochen Aufregendes passieren würde.

Vorfreude leben​

Autor Philipp Fuge bei Gibraltar

Bis heute ist es mir vor großen wie kleinen Reisen wichtig, meine Vorfreude zu kultivieren. Wenn ich meinen Wanderrucksack packe, ist das wie eine Art heiliges Ritual: Ich lege den Soundtrack zu „Into the Wild“ auf, hole die Kisten mit dem Outdoor-Equipment vom Regal und suche meine Kleidung zusammen. Ich stopfe T-Shirts neben Schokoriegel, die Badehose zur Gaskartusche, wickele die Zeltstangen in die Regenjacke … ein heilloses Chaos, das ich mehrmals auskippe und neu einpacke, bis ich schließlich zufrieden bin. Ab morgen wird das alles sein, was ich dabeihabe. Den ganzen Rest lasse ich für eine Weile hinter mir. 

Mein bisher größter Aufbruch ereignete sich am 4. Januar 2019. Mein Losgehen von damals steht mir noch immer so lebhaft vor Augen, als wäre es gestern gewesen: Ich sitze am südlichsten Festlandspunkt Europas im andalusischen Tarifa an der Straße von Gibraltar und schaue zur afrikanischen Küste hinüber. Zu Fuß quer durch Europa bis ans Nordkap, das habe ich mir vorgenommen.

"Ich stehe am Beginn eines Weges, den zu gehen ich lange geplant habe, der mir während der letzten Monate in meinen Träumen und Vorbereitungen beinah vertraut geworden ist und den ich dennoch kein bisschen kenne."

Meter für Meter werde ich mich tiefer in eine neue Wirklichkeit hinein bewegen. Und wenn ich schließlich angekommen bin, wird meine Wanderung Vergangenheit geworden sein, und ich werde von ihr erzählen können wie von einem guten, alten Freund.

Alles hinter sich lassen: Der Moment des Losgehens

Zögerlich und voller Tatendrang, neugierig und ängstlich, winzig klein und größenwahnsinnig zugleich laufe ich den Strand entlang. Am klaren, sonnigen Morgenhimmel ziehen Möwen ihre Kreise. Die Welt erscheint mir seltsam neu und frisch, als wäre ich gerade erst in sie hinein geboren. Trotz des schweren Rucksacks fühle ich mich federleicht. Ich spüre, wie alles von mir abfällt. Was mir während der letzten Wochen, Monate und Jahre wichtig vorkam, verschwimmt in der Ferne und wird unsichtbar. Ich bin wieder Kind, mit einer neuen Chance, ganz unvoreingenommen und unbelastet ins Leben hinauszuziehen, erwartungsvoll und doch ohne jede Erwartung.

Ich lasse den Blick aufs Meer hinaus schweifen und genieße meine neu gewonnene Unabhängigkeit. Aus dem Gewohnten auf- beziehungsweise auszubrechen und sich auf Ungewisses einzulassen, kostet Mut, schenkt aber auch Freiheit. Alles ist offen, alles kann passieren, der Weg steckt voller Überraschungen. Mein Wunsch, irgendwann am Nordkap anzukommen, tritt in den Hintergrund. Ich tue nichts weiter, als einen Fuß vor den anderen zu setzen, einfach ins Blaue hinein.

"Die Reise gleicht einem weißen Blatt unter meinen Füßen, das sich ganz allmählich füllen wird."

Dass dies die ersten Meter eines 6.575 km langen Weges werden könnten, liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft. 

Vorher - Nachher: Philipp Fuge im Vergleich

Ziel erreicht und doch wieder am Anfang

Neun Monate später, am 2. Oktober 2019, erreiche ich das Nordkap. Wieder blicke ich aufs Meer hinaus, diesmal in Richtung Nordpol. Tief unter mir tost die See gegen die Felswand. Ein schneidend kalter Wind bläst mir ins Gesicht und Schnee knirscht unter meinen Schuhen. Ich erinnere mich an den Beginn meiner Tour. Plötzlich bekommen meine allerersten Schritte eine ganz neue, noch viel wesentlichere Bedeutung für mich. Sie werden zum Anfang vom Ende einer langen Reise. Niemals werde ich vergessen, wie dies alles begonnen hat.

Räumlich war ich am Nordkap vom Startpunkt meiner Wanderung maximal weit entfernt. Abgesehen von den Möwen in der Luft erinnerte absolut nichts an den Strand von Tarifa. Und dennoch fühlte sich die Südspitze Europas ganz nahe an, beinah als wäre ich im Kreis gelaufen. Es kam mir vor, als wanderte ich noch einmal los, als sei mein Ankommen nahtlos in den nächsten Aufbruch übergegangen. Ich verließ meinen inzwischen so vertrauten Wanderalltag und wusste gleichzeitig, dass etwas Neues beginnen würde. Am Ziel mischen sich Zweifel und Euphorie, Furcht und Zuversicht – und alles ist wieder genauso offen wie beim Losgehen. Immer und immer wieder. 


Dieser Beitrag von Philipp Fuge erschien als Kolumne in der Ausgabe 212.