Es ist an einem grauen Nachmittag, als sich vor mir die vier Türme der Benediktinerabtei Münsterschwarzach erheben, ein inzwischen wohlvertrauter Anblick. Seit ein paar Jahren komme ich nun schon zur Adventszeit hierher, um für einige Tage in den Rhythmus klösterlichen Lebens einzutauchen. Und doch ist es diesmal etwas anderes: Ich bin mit Pater Anselm Grün verabredet. Der bekannte Benediktinermönch lebt und arbeitet hier – wenn er nicht auf einer seiner zahlreichen Vortragsreisen unterwegs ist. Während meines ersten Aufenthaltes las ich sein Buch „Von Gipfeln und Tälern des Lebens“.
Freundlich und vertraut werde ich von Pater Anselm am Empfang des Klosters begrüßt, von wo wir durch lange Gänge zu einem kleinen Zimmer gehen. Zwei Rattansessel, ein Tisch mit einer Kerze und einem kleinen Adventsgesteck, an einer der weißen Wände hängt ein Kruzifix. Wir nehmen Platz und mir scheint, dass uns das Thema „Wandern“ sofort auf den – sprichwörtlich – gemeinsamen Weg bringt.
Im erwähnten Buch beschreibt Pater Anselm, wie er seine Liebe zu den Bergen und damit zum Wandern entdeckt hat.
„Wir haben damals in München gelebt. Die Berge lagen vor der Haustüre und so hat mein Vater mit mir und meinen Geschwistern dort oft Wanderungen unternommen. Mit etwa 10 Jahren war ich mit etwa 60 Kindern unter Leitung unseres Kaplans in einem Feldlager im Gebirge. Wir waren inmitten der Natur, die wir in der Gemeinschaft erkundet haben. Bei mir entwickelte sich eine nachhaltige Begeisterung. Als Jugendlicher, ich dürfte so 15 Jahre gewesen sein, bin ich mit meinen Geschwistern in den Ferien mit dem Fahrrad ins Gebirge gefahren. Ziel der Bergwanderungen waren die Gipfel und im Pitztal erklommen wir dann unseren ersten 3.000er. Wir haben uns ohne besondere Ausrüstung auf den Weg gemacht. Im südtiroler Ahrntal sind wir mal morgens um 04 Uhr aufgebrochen, um auf einen 3.500er zu steigen. Als wir am Gipfel ankamen stellten wir fest, dass die Berghütte geschlossen hatte, also sind wir den langen Weg wieder abgestiegen. Als junge Menschen kannten wir keine Grenzen.“
Grenzen. Ich erzähle, dass mich mit dem Ahrntal auch eine besondere Erinnerung verbindet. Vor 14 Jahren habe ich dort mit dem Bergsteiger Hans Kammerlander meine erste 24 Stunden Wanderung unternommen. Und als würde es mir hier selbst nochmal bewusst werden, füge ich hinzu: „Das hatte nachhaltige Folgen. Diese Art des Wanderns hat etwas mit mir gemacht. Pater Anselm, welche Bedeutung hat das Wandern für Sie?“
„Wandern heißt für mich, sich freigehen von Belastungen und Sorgen. Wandern heißt, langsam in der Natur zu gehen, sich an ihr zu erfreuen. Auf einen Berg zu steigen ist immer ein besonderes Erlebnis. Aus der Höhe über die Landschaft schauen und deren Schönheit genießen – das ist mir wichtig.“ Als würde Pater Anselm meine nächste Frage bereits ahnen, fährt er fort: „Wandern ist für mich aber auch ein urmenschliches Bild, schon in der Bibel ist das Wandern ein Urbild des Glaubens. Wandern ist das Auswandern aus Abhängigkeiten, aus alten Gewohnheiten und aus Bildern, die andere übergestülpt haben. Und damit das Hineingehen in die eigene Gestalt. Wandern heißt, verletzende Gefühle der Vergangenheit hinter sich zu lassen und ganz im Augenblick zu sein. Wenn ich wandere, wandle ich mich.“
„Beim Wandern in den Bergen ist das Ziel zumeist definiert, beim Pilgern konzentriert man sich viel mehr auf den Weg. Ist nur das eigentliche Ziel wichtig? Oder ist der Weg bereits das Ziel?“, will ich wissen.
„Es ist beides wichtig. Man kann sich einfach auf den Weg machen und abends wieder zuhause ankommen. Aber es gibt natürlich auch Menschen, die begeben sich auf einen Weg und überlassen es dem Zufall, wo sie am Abend ankommen. Bei einer Wallfahrt gibt es immer ein Ziel, egal wie lange diese dauert. Es ist ein Urbedürfnis des Menschen, sich mit seinen Problemen auf den Weg zu machen, auszuwandern. Entscheidend aber ist das Ankommen an einem Ort, wo man Geborgenheit findet und das Gefühl hat, eine Antwort zu bekommen. Oftmals klären sich Dinge beim Gehen unbewusst.“
Nach einer kurzen Pause fährt Pater Anselm fort: „Der dänische Philosoph und Theologe Sören Kierkegaard sagte einmal: „Ich kenne keinen Kummer, von dem ich mich nicht freigehen kann.“
Für das berührende Gespräch möchte ich mich mit einem Zitat Pater Anselms aus seinem anfangs erwähnten Buch herzlich bedanken: „Es tut gut, miteinander unterwegs zu sein, sich gegenseitig zu stützen, zu ermutigen oder einfach ins Gespräch zu kommen.“