Schließlich weiß er, was zu tun ist: Sorgfältig gräbt er den Pilz aus und trägt ihn nach Hause. Dort angekommen, holt er aus dem Keller die alte Mörsergranatenhülle. In einem Urlaub mit seinen Eltern hat er sie vor etwa 25 Jahren in einem Bach im Hohen Venn gefunden und seither mit dem Gefühl aufbewahrt, dass er sie irgendwann brauchen würde. Herr Freitag pflanzt den Pilz in die Mörsergranate und schafft so ein Stillleben, dessen explosives Element erst auf den zweiten Blick ins Auge springt. „Hätte ich sie damals im Bach liegen lassen, würden wahrscheinlich nun auch Pilze oder Algen drauf wachsen“, denkt er dabei und gibt seinem Werk den Titel „Reich in Rost“.

Schreiben über die Kunst

Diese Geschichte kommt mir in den Sinn, während ich einen Artikel zum Thema Kunst in der Landschaft vorbereite. Eigentlich wollte ich das Thema an „Nordland-Kunst“,  einem nordnorwegischen LandArt-Projekt, durchspielen. Aber das Leben ist ja bekannt dafür, dass es meistens anders kommt. Mein Plan scheitert auf allen Ebenen: Zum Zeitpunkt meines Aufenthalts auf der Insel Vega in Nordnorwegen ist meine wichtigste Interviewpartnerin, die Projektmanagerin von Nordland-Kunst, überraschend außer Landes. Wie ich bald feststelle, gucke ich ohne die professionelle Hilfe dieser Dame auf die Skulpturenlandschaft Vegas wie ein Schwein ins Uhrwerk. Sorry! Mir fehlt der Zugang und ich weiß beim besten Willen nicht, was der Künstler, Kain Tapper, damit ausdrücken wollte. Insofern fällt es kaum noch ins Gewicht, dass ich Tapper auch nicht wie geplant interviewen kann. Mehrere an der Planung beteiligte Personen haben nämlich ein nicht ganz unwesentliches Detail übersehen: Der Künstler starb im Jahr 2004.

Schweigmaschine

Ich sitze zu Hause und starre auf ein kränklich weißes Windows-Dokument, das sich einfach nicht mit Zeilen füllen will. Ich starre auf meine Finger und warte darauf, dass sie beginnen, sich über die Tastatur zu bewegen. Es passiert nichts. Ich gebe auf, lasse mich ziellos durchs Internet treiben und stoße dabei auf ein Werk meines Freundes Herrn Freitag, das meine Situation in ein so treffendes Wortbild fasst, dass ich in schallendes Gelächter ausbreche: „Post-apokalyptischer Spätnachmittag mit Schweigmaschine“ lautet der Titel eines Fotos, das eine von Farn und Moos umrankte Schreibmaschine ohne Tasten zeigt. „Das spricht mich an“, denke ich. Ich schaue, was Herr Freitag sonst noch so hochgeladen hat und stoße auf die verlorenen Tasten der Schweigmaschine, deren Spur sich in der Dunkelheit des Waldes verliert. Ich weiß nun, was zu tun ist. Ich mache mich auf Spurensuche.

Unser schöner Wald

Die Wälder um Ratingen und Düsseldorf, die Herr Freitag, unsere Freunde und ich in frühester Jugend als „Wald“ kennen gelernt haben, sind keine unberührten Wälder. Auf meiner Reise nach Norwegen habe ich Landschaften gesehen, die so wild und ursprünglich wirkten, als sei der Tag meines Besuches ihr erster Tag auf Erden. In unserer Gegend ist das anders. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem meine Freundin Sonja gesenkten Hauptes und mit hängenden Schultern vor mir in der Uni-Cafeteria saß. Ihre Finger krampften sich um den Kaffeepott. Dann gab sie sich einen Ruck, hob den Kopf, schaute mir fest in die Augen und sagte: „Weißt du, was mir gestern bewusst geworden ist? Ich habe während meiner gesamten Kindheit und Jugend den Geruch von Kerosin mit dem Geruch des Waldes verwechselt!“ ...