Text & Bilder von Andrea C. Bayer
Nicht nur, dass Dauerregen für noch mehr wohltuende Alleinezeit im Draußen sorgt, weil rein gar nix mehr los ist auf den Wegen und Pfaden. Er zaubert überdies Stimmungen, die den Charakter von Landschaften um ein Vielfaches verstärken. Inmitten der tiefen Täler, dichten Wälder und Plateaukuppen der Region Éislek heißt das: Wolken ziehen so tief, dass sie die gegenüberliegenden Hänge auf meiner Augenhöhe umwabern. Die Farben sind reduziert. Formen haben ihren Auftritt: Tropfengetränkte Spinnennetze halten sich an grau bemoostem Astwerk fest. Eichenniederwälder wirken auf mich wie in der Bewegung erstarrte uralte Fabelwesen. Und kaum dass ein Hauch Licht es durch eine Wolkendecke schafft, strahlt durchnässtes Grün wie ein frisch getupftes Aquarell.
Bewusstes Gehen im Regenrausch
Auch ich bin durchnässt. Es ist der dritte und letzte Tag auf dem Escapardenne Lee Trail. Die Kamera ist sicher im Rucksack verstaut. Auf eine Pause verzichte ich. Es ist zu kalt. Ich wandere durch. Noch bewusster als an den Tagen zuvor. Heute gehören die Eindrücke einfach nur mir. Da ist keine Ablenkung durch Fotoperspektiven. Da sind nur meine Gedanken, der auf meine Füße gerichtete Blick und das Aufschauen zu Wegweisern, um sicherzustellen, dass ich noch richtig bin.
Mit Bedacht setze ich einen Fuß vor den anderen. Hier und da nehme ich eine Hand zur Hilfe. Es ist rutschig auf den teils schmalen Pfaden. Immer wieder geht es steil hinauf und ebenso steil hinab. Senkrecht geschichteter Schiefer guckt aus dem Boden. Ich gucke zu, wie tief unter mir ein Zug im Fels verschwindet, dessen Fahrgeräusche nicht bis zu mir hinauf dringen.
Überhaupt ist es inzwischen ganz schön ruhig auf dem Trail. Am ersten Tag war mir noch sehr präsent, wie nah diese Fülle an Natur doch an der Zivilisation ist. Der Buchenwald filterte Autorauschen, das mich daran erinnerte, dass ich eben nicht alleine bin, sondern Einheimische unweit von mir ihren Alltag bestreiten. Zu diesem Alltag gehört es, aus den langgezogenen Tälern hinauszufahren, und dazu gehört Landwirtschaft. Das nördliche Luxemburg ist geprägt von Land- und Forstwirtschaft und von erstaunlich intakten Wäldern.
Landschaft lesen und verstehen
Bald schon stehe ich an diesem ersten Tag an einem dieser so typischen Abhänge und bewundere eine Komposition aus knorrigen Minieichen, filigranem Farn und in flauschige Moosmäntel gehüllten Steinbrocken. Jetzt fühle ich mich wirklich weit weg von allem. Während ich versuche, diese Landschaft zu verstehen. So recht gelingt mir das noch nicht. Irgendetwas irritiert mich. In meinem Kopf überlagern sich Bilder gewohnter Mittelgebirgslandschaften. Mit weichen Wegen, Wurzelwerk und Aussichtspunkten. Dann ist da etwas, das irgendwie doch anders ist. Ich kann es nicht fassen.
Am ersten richtigen Aussichtspunkt, dem Predigtstuhl, wird dieses diffuse Gefühl intensiver. Mit meiner Nordaffinität denke ich an den norwegischen Preikestolen und stolpere wieder einmal darüber, was Worte und Bilder in einem so anstellen. Gegen Ende der ersten Etappe komme ich an einen der markantesten Punkte des Escapardenne Lee Trails: Von der Gringlee aus schaue ich auf die Sauer-Schleife unter mir. Der Fluss windet sich in einer 180-Grad-Kurve durchs Tal und ich beginne, meine Landschaftsirritation zu begreifen.
Es ist dieser Kontrast zwischen dicht-urigem Wald und Weite, der hier so charakteristisch ist. Die Kuppen der Höhenzüge vor mir beschreiben eine sanfte Wellenform. Teils sind sie lückenlos bewaldet, teils grünen sie üppig und hier und da schmiegen sich Siedlungen in die Geometrie der abgerundeten Hügel hinein.
Wenn der Flusslauf Höhen formt
Dass mich diese Landschaft so stark irritiert, liegt in ihrer rund 400 Millionen Jahre alten Geschichte begründet. Die Ardennen, in denen wir uns hier befinden, sind, vereinfacht gesagt, in einem Prozess von Faltungen und Erosionen entstanden. Was sie so besonders macht, sind mäandrierende Flussläufe wie die der Sauer bzw. Sûre auf Französisch. Derartige Verläufe finden sich üblicherweise in flachem Terrain. Und das beweist, dass die Flüsse in den Ardennen die heutige Hügellandschaft geformt und sie schon vor der Entstehung der heutigen Höhen durchflossen haben. Als sich das Land dann vor etwa einer Million Jahre zu heben begann, blieben die Flusstäler erhalten und gruben sich noch tiefer ein. Was mich heute so durcheinander bringt, war geboren.
All das erfahre ich nach meinen Wandertagen. Ich bin einmal mehr fasziniert davon, wie sehr man selbst spüren kann, dass in Landschaft so viel mehr steckt als man visuell erfassen kann. Auch finde ich es spannend, wie schnell man sich trotz leichter Irritation in Landschaft einfindet.
Am zweiten Tag gelingt mir das vom ersten Moment an richtig gut. Schon bald geht es vom Ufer der Sauer aus wieder nach oben. Im Schutz des Waldes komme ich ins Schwitzen. Obwohl wir kalendarisch längst im Herbst angekommen sind, gehe ich im T-Shirt. Bis zum Plateau. Dort weht es frisch. Ich drehe mich mehrmals um mich selbst, gucke über sanfte und steile Hänge hinweg und genieße es, ein ganzes Stück an Feldern vorbei und durch reine Kulturlandschaft zu wandern. Auch diese Strecken gibt es auf dem Trail und sie sind gut: Bei den vielen Wow-Momenten zwischen großen Ausblicken und putzig kleinen Pilzfamilientreffen mitten auf dem Weg tut etwas Entspannung gut. Im Kopf und in den Füßen, denn es gibt auf dem Escapardenne Lee Trail etliche anspruchsvolle Abschnitte.
Auf zum Finger Gottes
Der Weg zum Finger Gottes ist so einer. Grüne Geländer geben Sicherheit. Rechts von mir fällt der Hang ab, links schramme ich ein paarmal mit dem Rucksack an Felsen lang. Ich atme feuchte Waldluft, entdecke ein paar bunte Blätter an einzelnen Bäumen. Endlich! Der Herbst scheint in Luxemburg ein wenig später einzutrudeln, als ich vermutet hatte. Wie perfekt für die Saisonverlängerung!
Von April bis Oktober ist der Escapardenne Lee Trail gut zu gehen. Die Stimmung zwischen Spätsommer und Frühherbst steht ihm gut und ich stehe plötzlich vor dem „Doigt de Dieu”, dem „Finger Gottes”. Dass dieser markant-schroffe Fels heute so selbstbewusst aus den Baumkronen ragt, ist ebenfalls dem Fluss Sauer und den Erosionsprozessen zu verdanken.
Für mich geht es hinüber auf die andere Seite des Tales. Ich blicke ein letztes Mal zurück zum göttlichen Felsen, schnaufe bei einem Becher Thermoskannen-Kaffee tief durch und noch ein paar Mal bergauf. Solange, bis die Molberlee vor mir liegt. Dieser Schiefergrat ist das Motiv des Escapardenne Lee Trails. Als wäre es göttliche Fügung, bricht die Sonne durch. Gestein und Gebüsch sind für einen Moment in warmes Licht getaucht. Die zweite Etappe ist fast geschafft! Der Wettergott hat es besser mit mir gemeint, als noch am Morgen zu erahnen war.
Wandern mit Anspruch und Genuss
Ich verstehe, warum das Éislek bei Luxemburgern selbst eine beliebte Wanderregion ist. Ich mag diesen Rhythmus der kurzen, steilen Anstiege und der vermeintlichen Nichtlogik der Wegeführung. Der Escapardenne Lee Trail verbindet seit seiner Adelung zum „Leading Quality Trail – Best of Europe” im Jahr 2015 existierende Wege und Pfade mit dem Ziel, diese so eigene Natur und Kulturlandschaft zugänglich und zu Fuß erlebbar zu machen. Es geht mitnichten darum, schnell von A nach B zu kommen. Wohl aber geht es darum, auch mal am selben Hang ein Stück bergab und wieder hinauf zu gehen. Um durch die schönsten Lücken im Blätterdickicht weit zu gucken und vielleicht auch ein wenig, um sich an Land ähnlich mäandrierend fortzubewegen, wie es die Sauer unter mir tut.
Am Abend genieße ich herbstliche Pilz-Quiche und ein Glas sommerlich-leichten Weißweins. Der kommt aus Luxemburg und überrascht mich ebenso positiv wie der Trail. Es ist mein erstes Mal Wandern in Luxemburg. Ich bin hoch zufrieden mit meinen Eskapaden in die Ardennen, die dem Trail übrigens seinen Namen gegeben haben. Ein bisschen freue ich mich jetzt sogar auf die Regenprognose für den nächsten Tag.
Zugegeben: Als ich schließlich am frühen Nachmittag dieses dritten und letzten Wandertages am Campingplatz von Kautenbach einlaufe, sehe ich der warmen Dusche und trockener Kleidung schwer entgegen. Im Café bestelle ich eine Portion Pommes und einen Kaffee. Meine fürsorglichen Gastgeber Bianca und Erik drehen die Heizung auf. Ich freue mich auf meine Nacht im muckeligen Schlaffass und erwische mich beim Blick auf die Landkarte: Das Ende des Escapardenne Lee Trails ist der Anfang des Escapardenne Éislek Trails. Der führt auf 106 Kilometern rüber bis in die belgischen Ardennen …
Der Trail
Der Escapardenne Lee Trail ist 54 Kilometer lang. Er verläuft in drei offiziellen Etappen vom luxemburgischen Ettelbrück bis nach Kautenbach und passiert kleine Ortschaften ebenso wie die landschaftstypischen Hochplateaus und dichte Wälder. Obwohl die Etappen mit 15 bis 20 Kilometern recht kurz zu sein scheinen, ist es ratsam, sich an die Empfehlung zu halten. Die Start- und Endpunkte sind gut per Zug erreichbar und es gibt Unterkünfte. Nicht zu unterschätzen ist der Anspruch des Fernwanderweges: Die 1.810 Höhenmeter im Aufstieg und 1.760 im Abstieg verteilen sich auf mitunter recht steile Abschnitte und das Gelände erfordert Trittsicherheit.
Der Trail ist perfekt für geübte Wanderer und Entdecker und macht auch dann Spaß, wenn wechselhaftes Wetter für mystische Stimmung sorgt.Anreisen und rumkommen:
Luxemburg ist von Deutschland aus gut mit dem Zug zu erreichen. In Luxemburg wiederum ist der öffentliche Personennahverkehr kostenlos und die Wanderinfrastruktur in der Region Éislek ist so gestaltet, dass es von jedem Bahnhof aus Zubringer zu den lokalen Wandertouren und auch zu den Etappen des Escapardenne Lee Trails gibt.Übernachten:
Entlang des Escapardenne Lee Trails gibt es Unterkünfte vom Campingplatz bis zum Hotel. Unser Tipp: Das Hotel Cocoon Hôtel Belair in Bourscheid-Moulin liegt am Ende der ersten Etappe. Es eignet sich gut als Ausgangspunkt für die Etappen zwei und drei: Ein individueller Shuttle und das Angebot eines Lunchpakets für den Tag erleichtern die Logistik. Und im Nachbarhotel gibt’s einen Wellnessbereich.
Vier Tipps rund um eine Wanderauszeit im nördlichen Luxemburg:
1. Festes Quartier und Gepäcktransport
Die hervorragende Mobilitätsinfrastruktur macht es einfach, den Trail von einem oder zwei Quartieren aus zu gehen. Der Genuss des Weges ist gewiss noch ein Stück größer, wenn man nur mit Tagesgepäck gehen kann. Es erleichtert die steilen und felsigen Passagen im wahrsten Sinne des Wortes.
Der Gepäcktransport, zum Beispiel mit MoveWeCarry, ist ein tolles Angebot, wenn man die Unterkunft wechselt. Gerade dann, wenn das Wetter unwirtlich wird, ist die Kombination aus fester Unterkunft und Gepäcktransport eine gute Sache.
2. Tagestouren im Éislek
Die herausragende Erschließung der Region Éislek lädt nicht nur zu Mehrtages-, sondern auch zu Tagestouren mit ganz unterschiedlichem Anspruch und in abwechslungsreichen Kulissen ein. Über 1.900 Kilometer Wanderwege sind markiert. Es gibt an die 200 ausgeschilderte Routen, Themenwanderwege und 18 Éislek Pied, die auf Rundwanderwegen zu den schönsten Natur- und Kulturerlebnissen im Norden Luxemburgs führen.
3. Geschichtsstunde in Ettelbrück
Dem Startort des Escapardenne Lee Trails gebührt besondere Aufmerksamkeit. Die Stadt Ettelbrück wurde 1944 zweimal von den alliierten Truppen befreit. Ein Denkmal und Infotafeln am Einstieg zum Trail sowie ein Museum erinnern an ein bedeutendes Stück Geschichte.
4. Luxemburg-Stadt
Wie wäre es zum Abschluss der Wanderauszeit in Luxemburg mit einem Abstecher in die Hauptstadt? Luxemburg-Stadt lässt sich prima zu Fuß erkunden. Viel Grün, viel Fels und viel Auf und Ab gibt’s auch hier. Wobei die Höhenunterschiede zwischen den unterschiedlichen Ebenen der Stadt bequem mit drei Aufzügen überwunden werden können.
Tipp: Sich treiben lassen und sich in den Gassen der Altstadt der Gemütlichkeit kleiner Cafés hingeben. Mit ein wenig Glück wird der eine oder andere Keller gegen Abend zum spontanen Konzertsaal und man mischt sich in Wohlfühlstimmung unter die Einheimischen.Weitere Infos zum Wander- und Kulturgenuss in Luxemburg gibt es auf www.visitluxembourg.com/de.