„Trauer [...] ist all die Liebe, die du geben möchtest, es aber nicht kannst. All diese ungenutzte Liebe sammelt sich in deinen Augenwinkeln, dem Kloß in deinem Hals und in der hohlen Stelle deiner Brust. Trauer ist einfach Liebe, die keinen Ort hat, an den sie gehen kann.“  – Jamie Anderson

Schon bei dem Gedanken daran, einen geliebten Menschen zu verlieren, schnürt sich unser Hals zu und wird das Herz schwer. Trauer und Tod sind Tabuthemen, über die wir nicht gerne sprechen, trotzdem sind sie allgegenwärtig. Es gehört zur Aufgabe vieler Hospizdienste und -gruppen, der Trauer Raum zu geben und trauernde Menschen zu begleiten. Aus diesem Grund organisiert der Hospiz- und Palliativ-Verein Gütersloh e.V. in NRW unter anderem Trauerspaziergänge für Angehörige. Wir haben mit Silke Schadwell, Hospizkoordinatorin des Vereins und Trauerbegleiterin, darüber gesprochen, wie diese Spaziergänge bei der Trauerbewältigung helfen können, warum sie sonntags stattfinden und wann Trauer aufhört.

Frau Schadwell, kann ein Spaziergang Trauer lindern?

Ob ein einziger Spaziergang Trauer lindern kann, ist schwer zu sagen, aber er kann auf jeden Fall guttun. Trauerbewältigung hat ganz viele Puzzleteile und ein Trauerspaziergang ist eines von diesen Teilchen, die dazu beitragen, den Trauerweg besser bewältigen zu können.

Wie würden Sie das Gefühl Trauer beschreiben? Haben Sie für sich eine Definition?

Trauer besteht aus ganz vielen Gefühlen, am vorrangigsten ist, glaube ich, die Ohnmacht und Hilflosigkeit, dass man dem Tod und dem Abschied nichts entgegenzusetzen hat. Wut ist am Anfang oft mit dabei und Sehnsucht, gemischt mit großer Traurigkeit. Die Frage nach dem Warum treibt die meisten Trauernden um, und Trauer hat auch viel mit Alleinsein und sich einsam fühlen zu tun. Das wird manchmal im Alltag in ganz banalen Situationen deutlich, z. B. wenn man plötzlich vor der Frage steht: Wie bestelle ich neues Gas oder Öl für die Heizung?", weil das vorher immer der Mann gemacht hat, der jetzt nicht mehr da ist. Auch wenn man Menschen in seinem Umfeld hat, die dabei unterstützen: Das Gefühl der Einsamkeit schwingt immer mit und das kann einem auch niemand nehmen.

Wie ist die Idee zum Trauerspaziergang entstanden?

Während der Corona-Zeit stießen wir mit unseren bisherigen Angeboten an unsere Grenzen. Der Bedarf an Trauergesprächen war riesig. Die Menschen haben ihre Angehörigen oft im Krankenhaus verloren, hatten in den letzten Wochen keinen Kontakt zu ihnen und konnten sie nicht sehen. Mit diesen Umständen klarzukommen, war oft noch belastender als der Tod selbst. Wir konnten nur mit Telefongesprächen helfen, aber das ist nicht für jeden das Richtige. Als es dann wieder möglich war, sich draußen zu treffen, haben wir gesagt, das ist jetzt unsere Chance! Die Idee, draußen, im Gehen und in der Gruppe über die eigene Trauer zu reden, ist wirklich gut angenommen worden. Mir haben viele Trauernde bestätigt, dass ihnen das Rausgehen in die Natur Kraft gebe, sie fühlten sich als Teil der Natur. Die Verbundenheit, die viele Menschen mit der Natur spüren, nutzen wir, weil sie sich dabei auch oft dem Menschen nahe fühlen, um den sie trauern.

Das Spazierengehen ist außerdem etwas, das viele sonst mit ihrer Partnerin oder ihrem Partner zusammen gemacht haben und das allein erstmal sehr schwerfällt. Das Erleben der Jahreszeiten, der erste Frühling z. B. ohne einen geliebten Menschen, die blühenden Blumen, die sprießenden Blätter und das Schöne mit niemandem teilen zu können, lässt manche wieder in ein Loch fallen, obwohl sie dachten, sie seien schon darüber hinweg. Vor allem der Sonntag ist ein schwieriger Tag, weil er für viele ein Familientag ist, an dem man andere Paare beim Spazierengehen, Fahrrad fahren oder Eisessen sieht. Während der Woche sind viele abgelenkt durch Arbeit oder Erledigungen, aber die Sonntage sind schwer. Deshalb finden unsere Trauerspaziergänge sonntags statt.

Worauf achten Sie bei der Organisation eines Trauerspaziergangs?

Zum einen sind da Anforderungen an den Weg selbst. Oft trauern ältere Menschen, die nicht mehr so gut zu Fuß sind und keinen 20 km-Marsch machen können. Unser Trauerspaziergang ist ca. 5 km lang. Es sollten nicht zu viele andere Spaziergänger:innen unterwegs sein, damit die Gespräche nicht ständig gestört werden oder man Fahrrädern ausweichen muss. Der Untergrund sollte gut begehbar sein, auch dann, wenn es vorher geregnet hat und es ist gut, wenn man zu zweit oder dritt nebeneinander gehen kann. Wir sind den Rundweg vorher abgegangen, um all das zu überprüfen. Fündig geworden sind wir in den benachbarten Herzebrocker Klosterwäldern.

Zum anderen soll der Trauerspaziergang sich von einem normalen Spaziergang unterscheiden und Tiefe und Substanz haben. Es gehen immer ein paar Trauerbegleiterinnen von uns mit, die Gespräche anbieten, zuhören und die Trauer mit aushalten. An geeigneter Stelle lesen wir einen kurzen Text als Impuls vor. Wir möchten Trauernden in diesem Moment einen geschützten Raum bieten, in dem sie sich fallen lassen und auf das konzentrieren können, was sie sagen möchten.

Wie würden Sie die Atmosphäre bei einem Trauerspaziergang beschreiben und wie läuft er ab?

Wir achten auf eine wertschätzende Atmosphäre, in der jede/r so sein darf, wie er oder sie ist. Es darf natürlich auch geweint werden, Taschentücher haben wir immer dabei. Wir geben lediglich den Hinweis, dass jede/r im eigenen Tempo gehen darf, denn es ist erschwerend, wenn man das Gefühl hat, nicht hinterherzukommen und kurzatmig wird oder wenn man sich ständig bremsen muss, weil man eigentlich gerne zügig geht. So finden sich von ganz allein diejenigen, die ein ähnliches Tempo haben oder man hat schon bei der kurzen Vorstellungsrunde jemanden gefunden, der, wie man selbst, z. B. um ein Geschwisterteil trauert. Zwischendurch machen wir kurze Pausen, damit die Gruppe wieder zusammenfindet und man die Möglichkeit hat, die Gesprächspartnerin oder den Gesprächspartner zu wechseln.

Natürlich kann man auch für sich alleine gehen ohne zu reden. Bei den bisherigen Trauerspaziergängen hatte ich aber das Gefühl, die Leute freuen sich darauf und es wird auch nicht nur über Trauer gesprochen. Wenn man erst einmal diesen Redefluss hatte, alles gesagt hat, was man loswerden wollte, dann kommt auch wieder eine Phase, in der man über andere Sachen spricht und auch lacht. Kurz vor Ende des Rundwegs halten wir nochmal an und verabschieden uns, sodass jede/r für sich zurückgehen kann. Manche wollen nach Hause, andere verabreden sich hingegen noch auf einen Kaffee im Kloster.

Was unterscheidet die Gespräche beim Trauerspaziergang von anderen Gesprächsangeboten in der Trauerbewältigung?

Von unseren Trauerangeboten, also Einzelgesprächen, Gruppengesprächen, Kreativangeboten, dem Trauercafé oder auch der Trauerbank, ist der Trauerspaziergang für mich ein ganz besonders schönes Angebot, weil die Trauer dabei nach draußen kommt. Andere Spaziergänger:innen, die uns begegnen, bemerken ja gar nicht, worüber wir gerade sprechen. Sie grüßen uns und gehen weiter. Das Schöne ist, dass man in diesem Moment beim Spaziergang die Trauer ins Leben trägt. Sie kann dadurch anders wahrgenommen oder anders eingeordnet werden. Es findet aktive Trauerbewältigung statt. Das ist eine gute Ergänzung zu der Trauer, die zu Hause stattfindet. Dann und wann werden die Trauergespräche auch mal unterbrochen, beispielsweise durch das Überqueren einer Straße oder durch ein vorbeispringendes Eichhörnchen. Man spürt, dass Leben um einen passiert. Dies ist bei den Trauerangeboten, die wir in geschlossenen Räumlichkeiten anbieten, nicht so.

Die Trauer wird ja oft selbst als ein Weg beschrieben mit Höhen und Tiefen.

Ja, ich beschreibe die Trauer sogar oft als Marathon, den man vor sich hat, und der ist richtig, richtig lang. Es gibt Berge, Täler, dunkle Ecken, helle Orte mit Bänken zum Ausruhen, es sind Menschen am Wegesrand, die einem Wasserbecher oder Bananen reichen und man darf auch mal gehen, aber man muss diesen Marathon alleine laufen. Manchmal vergleiche ich es auch mit einem Labyrinth oder einem Dschungel. Man steckt irgendwo mitten drin, hat sich verlaufen und kann erst durch einen Perspektivwechsel einen Ausweg finden. Ich frage Trauernde oft, wie sie ihre Situation bildlich beschreiben würden. Manche beschreiben sie wie ein schwarzes Loch, in dem sie sitzen und nicht herauskommen, noch nicht einmal Licht sehen und dann kann ich mir ungefähr vorstellen, wie stark die Trauer gerade ist. Andere fühlen die Trauer als einen schweren Rucksack, den sie überall mit sich tragen. Trauer ist schwer, sie wirkt sich auch auf den Körper aus. Indem sie den Trauerweg gehen, wird der Rucksack dann vielleicht immer leichter.

Wie lang ist dieser Weg?

Es gibt keine Antwort auf die Frage, wann Trauer aufhört. Ich sage immer, Trauer hört nie auf, aber sie verändert sich. Ich versuche mit den Menschen, die zu uns kommen, ihren ganz individuellen Trauerweg zu finden, um gut mit der Trauer umzugehen. Das gelingt allerdings nicht bei einer ganz frischen Trauer. Unsere Trauerangebote sind eigentlich erst ab ca. sechs Wochen nach dem Tod eines geliebten Menschen wirklich hilfreich. In der ersten Zeit befindet man sich in einem Schockzustand, es geht eigentlich nur ums Überleben. Gleichzeitig müssen ganz viele Dinge erledigt werden, obwohl man den Tod noch gar nicht akzeptiert hat. Manchmal möchten Angehörige schon ein Trauergespräch, obwohl der verstorbene Mensch gerade oder noch gar nicht beigesetzt ist. Sie merken dann oft, dass der Schmerz noch zu stark ist und der Kopf noch voll mit anderen Dingen ist, die erledigt werden müssen.

Es sollte etwas Zeit vergangen sein, bis man sich an die Startlinie stellen und auf den Trauerweg einlassen kann. In der Trauerbegleitung möchten wir Impulse für einen Weg in ein neues, ein verändertes Leben geben. Und irgendwann sagen die Menschen dann: "Danke, dass ich ein paar Mal kommen durfte. Ab jetzt komme ich allein klar." Auf dem jährlich stattfindenden Lichterfest für unsere Trauernden, wurde ich vor ein paar Jahren von einem Mann angesprochen. Mit leuchtenden Augen berichtete er, wie sehr wir ihm damals in seiner Trauer geholfen haben, als er seine Frau verloren hatte. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, jemals wieder glücklich zu sein, seine Frau fehlte überall. Er vermisse seine Frau immer noch, habe aber wieder eine neue Partnerin und sie seien sehr glücklich miteinander. Der Dank dieses Mannes hat mich sehr berührt und mir bestätigt, wie wichtig und wertvoll unsere Arbeit ist.

Info: Hospiz- und Palliativ-Verein Gütersloh e.V.

Hospizarbeit in Deutschland

Im Mittelpunkt der Hospizarbeit steht die Begleitung von schwerkranken Menschen in ihrer letzten Lebensphase zu Hause, in Pflegeeinrichtungen oder im stationären Hospiz. Auch die An- und Zugehörigen werden mit eingebunden. Es geht darum, Leiden zu lindern und die Lebensqualität so lange wie möglich zu bewahren, um so ein "Leben im Sterben" zu ermöglichen. Ehrenamtlich Mitarbeitende schenken ihre Zeit und besuchen die zu begleitenden Menschen. Sie haben einen speziellen Schulungskurs in der Sterbebegleitung und/oder Trauerbegleitung absolviert.

In Deutschland gibt es rund 1.500 ambulante Hospizdienste, ca. 260 stationäre Hospize für Erwachsene sowie 19 stationäre Hospize für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene und ca. 340 Palliativstationen in Krankenhäusern.

 

Die Fragen stellte Svenja Walter