Traufgänge - Wandern im Penthouse der Schwaben - page 7

7
Blickbahnhöfe & Ausguckrampen
Die Albstädter Alb gehört zur Zollernalb. Kilometerlang ist hier der Trauf,
überall zeigt der weiße Jura zwischen den Hangbuchen seine weißen Kalkriffe
wie Zähne. Hunderte Meter stürzt an vielen Stellen der Trauf jählings in die
Tiefe, alpines Feeling in einem der bekanntesten deutschen Mittelgebirge.
Kurios ist daran, dass das Hinterland mit weichen, schwingenden Linien,
hochflächenähnlich, erste wenige Meter vor der Hangkante das Unfassbare
preisgibt. Den Trauf von den Albstädter Stadtteilen aus zu besteigen ist kein
klassisches Gipfelbesteigen. Aus den Wiesen, aus dem Buchenwald tritt man
unvermittelt nahezu ebenerdig an die Abgründe. Hier liegen die Bahnhöfe für
die kühnsten Blickreisen, es sind Ausguckrampen der faszinierensten Art. Mal
reicht der Blick in das Eyachtal, mal zur Schmiecha, mal ins Albvorland, weit
über die Balinger Senke hin zum Nordschwarzwald.
Überlebenskunst & Klüfte
Wer die Hossinger Leiter besteigt, unter den lotrechten Kalkwänden vorbei
aufwärts steigt, kann nicht anders, als die Überlebenskünstler der Pflanzen-
welt zu bestaunen. Kleine Flechten überziehen Felssporne, Birken, Vogelbeere
oder Fichte wurzeln in abstruser Unwirklichkeit aus den scheinbar glatten
Wänden, Farne setzen grüne Tupfer in das kalkweiße Juragestein. Die Trauf-
gänge bieten Begegnungen mit demWunder des Überlebenswillens. Vorne
auf dem Zollernburg-Panorama, am Hangenden Stein, wurzeln haushohe
Buchen in einer Schräglage, die den schiefen Turm von Pisa meilenweit in den
Schatten stellt. Hier an der Hangkante des Zollerngrabens mit der Besonder-
heit einer Reliefumkehr der Gesteinsschichten bleibt auf Dauer nichts wie
es ist. Der braune Jura mit Gesteins- und Tonprofilen gerät immer wieder
ins Rutschen und nimmt das Deckgebirge des weißen Jura mit. So schaut
der Albtrauf hier aus der Luft betrachtet nicht wie eine saubere Trennlinie,
sondern wie ein ausgefranstes Tischtuch aus. Überall haben sich tiefe Talein-
schnitte, Klüfte und Schluchten gebildet. Unentwegt nagt das Flusssystem des
Rheins mit den Zuflüssen wie Neckar oder Eyach dank des Gefälles und der
unfassbar starken Erosionskraft des Wassers am Trauf. Bricht hier eine Ecke
weg, säbelt dort ein Stück aus der Traufkante heraus. Das ist die Bühne der
Traufgänge. Mal drunterher, mal drumherum, dann wieder ganz dicht ran an
die Abbruchkante. Überragend.
Mare Germanicus & Pontus Euxinius
„Spinn‘ ich denn?“ Mein Mitwanderer schaut mich fragend an und deutet auf
die Karte. Der Aufreger ist die Entdeckung, dass die Schmiecha, deren Quell-
bereich wenige hundert Meter von der Traufkante bei Onstmettingen auf
dem Zollenburg-Panorama liegt, über die Donau ins Schwarze Meer fließt.
„Hast Du mir nicht gestern auf der Wiesenrunde erzählt, der Roschbach, der
vielleicht 200 Meter von der Hangkante entfernt liegt, würde über die Eyach,
den Neckar in den Rhein und in die Nordsee fließen?“ Ich beruhige meinen
Freund Heinz, während wir von unserem Aussichtsloft auf dem Gräbelesberg
ins Eyachtal schauen. „Stimmt Beides!“ Die Europäische Wasserscheide führt
über die Albstädter Alb, teils auf weniger als 50 oder 100 Metern Distanz.
Nördlich entwässern die Bäche ins Mare Germanicus, die Nordsee. Süd-
lich über die Donau in das Pontus Euxinius der Antike, das Schwarzmeer.
Geologie zum Anfassen, jeder Meter eine geologische Zeitreise. Ob Heersberg,
Hörnle, Schlossfels oder Zeller Horn – das muss, ja das kann nur das Pent-
house der Schwaben sein.
Josef Hugger
90 Jahre, pensionierter Förster
150 Millionen Jahre dau-
erte die Hebung des Traufs. Seit
dieser Zeit wird er Millimeter
für Millimeter wieder abgetra-
gen. Von Nord nach Süd kippt
die Albhochfläche mit einem
5%-igen Gefälle. Der Mergel
hemmt das Wasser und so wird
durch Staunässe der wasserlös-
liche Kalkstein darüber Stück
für Stück zersetzt. Am Albtrauf
kann man die Erosionskräfte
genau beobachten. Erstaunlich,
wie sich die Bäume in dieser
Todeszone mit armdickemWur-
zelwerk behaupten.
Rudolf Matyas
44 Jahre, Schäfer
Ich habe gewiss den
schönsten Beruf von allen. Ich
ziehe mit meinen Schafen über
die Aussichtsbalkone des Trauf
und schaue ins Tal. Parkplätze
füllen sich am Morgen, leeren
sich gegen Mittag, um sich dann
noch einmal zu füllen. Abends,
wenn meine Schafe zufrieden
und satt sind, haben sich unten
im Tal die Parkplätze wieder
geleert. So lebe ich unter freiem
Himmel ohne jedes Zeitkorsett.
Der Hunger und Durst meiner
Schafherde dirigiert letztlich
den Ablauf des Tages.
AUSBLICKTRAUF
„Lass‘ die Blicke einfach fliegen!“ Ich stehe mit meiner Berner Sennhündin auf
dem 921 m hohen Böllat. Der Blick jagt mir einen Schauer nach dem anderen
über die Haut. „Großes Kino“, höre ich mich raunen. Der Felsenmeersteig ist
einer der acht Traufgänge. Eines der Markenzeichen sind die Ausblickkanzeln. Es
sind Abschussrampen für Blicke. Einfach dastehen, der Magie der Horizonttiefe
nachgeben und in Gedanken den Blicken hinterherfliegen.
1,2,3,4,5,6 8,9,10,11,12,13,14,15,16,17,...20
Powered by FlippingBook